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2019-01-04 15:19:52, Jamal Tuschick

Thaïs schickte Hamid gleich nach dem Konzert weg. Abwinkend sagte sie Tschö, Hamid war erleichtert.

Der zivilisatorisch verharmloste Hamid verspricht ein ungefährliches Vergnügen, während der Beduine im Künstler im Duett mit Gloria Gaynor I will survive verspricht.

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Keine Arbeitsgemeinschaft ohne Emine. Sie spielt Theater, singt im Chor, schreibt Schülerzeitung, steigt auf unter dem Korb der gegnerischen Mannschaft. Sie ist die Anführerin der Rotkäppchen Bande. Sie macht alles mit, ob Fasching, Weihnachtsmarkt, Stadtteilfest oder Flüchtlingsbasar. Sie weiß, weshalb man Damaris gerade nicht ans Telefon kriegt, mit allen Varianten, die der Gebetskalender vorschreibt.

Man sieht den Menschen am Morgen, denn bis zum Abend ist er durch zu viele Einflüsse gegangen, sagt der Khan in einem kontemplativen Anwandlungsaugenblick zu seiner klügsten Tochter.

Geht es in einem Film zur Sache, fängt Emine automatisch Damaris Aufmerksamkeit ab, damit die Freundin nicht aus dem Kino rennt.

*

„Was die Genetik anbetrifft, sind Individuen und Gruppen wie Wolken am Himmel.“ Richard Dawkins

Gruppen bewahren ihre Identität, indem sie neue Verbindungen eingehen. Sie rekrutieren Außenseiter, um ihren Bestand zu schützen. In paradoxen Prozessen verändern sich die Leitbilder. Identitätsmarken sinken ab bis zur Traditionsleiste. Was dazu gehört, entgeht der Praxis und wird Sediment. Wer die Auskunft darüber beherrscht, ist wichtig. Oft nennt man einen so Wichtigen das Gedächtnis, obwohl im (kulturellen) Gedächtnis nur das Lebhafte Platz hat. Massoud versteht sich als das Gedächtnis der Mansours und als Gralshüter des Mansour’schen Erbes. Der Klan besaß in vorislamischer Zeit die Kraft zu einem Königreich. Er konnte sich lange dynastisch dynamisieren. Massoud sichert das Herrschaftswissen. Es offenbart sich ihm in der Selbstgewissheit, die seine Ahnen auf Bildern zur Schau stellen. Er studiert die Physiognomien von Männern und Frauen, die von einer einzigen Idee geformt worden waren – Macht nicht abzugeben.

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Damaris hat es sich selbst verboten, einen Freund zu haben. Mit Borsten in der Nase käme ihr sowieso keiner ins Haus. Das wäre Verwahrlosung in ihren Augen. Bierbäuche sind für sie Schweinereien. In Achselhöhlen duldet sie nur die Aspiration von Deodorant.

Emine macht die Liebe nicht vom Achselhaar abhängig. Grundsätzlich wiegen Damaris‘ Gründe schwer wie Denkmäler oder Dogmen. Emine und Damaris sind seit den Geburtsvorbereitungskursen ihrer Mütter befreundet. Der große Khan begrüßt die Freundschaft. Er zweifelt nicht an Damaris. Sie ist vorbildlicher Umgang. Deshalb darf Emine bei Damaris übernachten.

Damaris deckt Emines Selbstermächtigungen ab. Sie macht die Räuberleiter. Mit macht sie nicht.

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Auf der Bühne findet ein Gespräch statt. Das Tenorsaxophon spricht mit dem Baritonsaxophon. Der Druck, mit dem die Musiker Luft in die Instrumente pressen, deformiert ihre Gesichter. Sie spielen weltflüchtig mit geschlossenen Augen. Emine findet, dass der Baritonbläser wie ein zugedröhnter Frosch aussieht. Der Tenorsaxophonist erscheint ihr überirdisch anziehend. Emine hat unter einem Bouquet von Lügen ihre Absicht begraben, gegen alle elternhäuslichen Spielregeln zu handeln; eine Fünfzehnjährige in der Barbara Bar abends um zehn. Sie zupft an sich herum, prüft ihre Wirkung auf Erwachsene. Die Frauen übersehen sie interessiert.

Wüsste ihr Vater Bescheid, würde der Fleischkhan von Neukölln auf der Stelle ein Rollkommando sich selbst voraussenden. Emine ist vor Ort, um ihren Klarinettenlehrer Hamid am Saxophon zu bewundern. Er spielt nur den Ausputzer in Thaïs‘ Gothic Jazz Kapelle „Wuji“. Obwohl er Thaïs‘ Geliebter ist, hat er in ihrer Band keinen Stammplatz.

Nicht jeder kennt das. Der Bremsschirm öffnet sich zu früh, man hängt in der Luft, wie Evel Knievel am 8. September 1974 als Leichtmatrose der Raumfahrt in seiner steam-powered rocket Skycycle X-2 über dem Snake River Canyon im US-Bundesstaat Idaho. Thaïs, die Heldin dieser Geschichte, schmierte Jahrzehnte später in der Wannsee Villa ihres Liebhabers Dr. Massoud Mansour ab. Sie rutschte wie Korn durch den Trichter einer absurden Unvermeidlichkeit dem Schicksalsmahlwerk entgegen: als siebenundzwanzigjährige Freundin eines vierzigjährigen Patriarchen.

Thaïs kündigt das nächste Lied an: „Green Onion“. Jemand klemmt sich, ohne zu fragen in die Aussparung auf der anderen Seite des Nierentischchens, an dem Emine platziert wurde. Emine erkennt in dem unhöflichen Mann Hamids sagenhaft reichen und gut angezogenen Onkel. Massoud mustert die Verehrerin seines Neffen spöttisch. Sein privater Geheimdienst hat ihn aufgeklärt. Massoud ist vollkommen im Bild.

Eine Kellnerin bringt Getränke und Snacks, die Emine nicht bestellt hat. Massoud verbietet mit einer Geste jeden Einwand gegen die Versorgung. Er beobachtet Thaïs, die nun auch seine Geliebte ist. Ihre Blicke treffen sich. Massoud erkennt Thaïs‘ Bestürzung zu seiner Beruhigung. Er ist immer noch Löwe genug für den großen Tanz. Hamid wird sich auf ein Zeichen hin zurückziehen und bald froh sein, mit einer weniger Anspruchsvollen es sich bequem machen zu dürfen. Man könnte ihn aus seiner Reihe ziehen, ohne einen Verlust zu erzielen.

*

Hamid bemerkt Emine im Club nicht, so wenig wie seinen Onkel und Thaïs‘ plötzliche Unruhe. Er erkennt keinen Grund, sich zu wundern, als ihm nach der letzten Zugabe gesagt wird, er solle allein gehen. Wieder nimmt er den Ausgang zum Hof, um durch einen Fahrradkeller und das Treppenhaus eines Nebenhauses ins Freie zu gelangen. Auch wenn Massoud wenig von ihm hält, Hamid findet sich famos. Als sein Erbe begreift er nicht die Gewalt der Altvorderen, sondern die singuläre Prägung der Nomaden in einer lebensfeindlichen Welt. Es hat doch nie etwas anderes gegeben, als Tod und Geburt. Das sind Vorspiele des Nichts in der Wüste, und nun ist die Wüste in Berlin angekommen.

Hamid hat Wüstenkompetenz. Er erlaubt Ulrike, die im Café Jamal Pfannkuchen bäckt und ab halbelf, zur Vermeidung der Traurigkeit, Cointreau nuckelt, ihn auf einen Gin Tonic einzuladen, während Emine halb enttäuscht und halb erleichtert zu Damaris und deren selbstverständlich vermögenden Eltern fährt, wo sie unter konspirativen Umständen erwartet wird. Hamid ist der Typ, auf den ca. vierzig Prozent der weiblichen Gäste im Jamal abfahren. Ein Künstler, von dem man weiß, dass er schon mit dem Heizorchester gespielt hat.

Ich will euch Hamid nicht ausmalen. Er wirkt auf sich selbst enttäuschende (von sich selbst enttäuschte), von Ausdruckshunger gequälte Frauen wie Leim auf Fliegen. Die Ringe unter seinen Augen erscheinen ihnen wie jene schwarzen Halbmonde, die guten Sex in einem guten Raum versprechen. Nicht so eine Bretterbude und noch mehr Unzulängliches, dass übergangen werden muss, um sich und dem Anderen Peinlichkeiten zu ersparen.

Es geht um Körperkooperation und Gengemeinschaft, sobald sich Ulrike am Tresen vorbeugt und mit Vertraulichkeit Hamid aus dem allgemeinen Verkehr zieht. Das heißt, es geht um alles, obzwar man sich lediglich einen überschaubaren Austausch ohne den Aufwand einer Balz in Aussicht stellt.

„Hast du Hunger? Möchtest du einen Pfannkuchen?“

Ja, Ulrike hat einen Gasherd zu ihrer Verfügung. Das ist ja eine richtige Wirtshausküche mit sechs Feuerstellen, vier Mikrowellenherden und zwei Tiefbecken.