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2019-01-05 17:46:09, Jamal Tuschick

Océane Labaki erzählt von einer Liebe unter Musiker*innen.

Saure Ausscheidungen

Solange man den männlichen Samen nur für eine Ausscheidung hielt, war Vaterschaft unplausibel. So versteht man das Märchen von einer jungfräulichen Empfängnis als leicht transportable Verwandlungsgeschichte. Die Ejakulation in der Konsequenz einer Penetration wurde als Befruchtungsereignis lange nicht begriffen. Die Kinder kamen aus den Frauen. Da hatten sie ihren voraussetzungslosen Ursprung.

Eingebetteter Medieninhalt

Nach drei Monaten in Ankara bewältigte er sprachlich den anspruchslosen Alltag. Seine Fortschritte fand er selbst so beachtlich, dass er die Kolleginnen seiner Geliebten zu Komplimenten ermutigte. Den Vorteil eines ständigen Umgangs mit Professorin Hülya ließ er nicht gelten. Auch seine Vorkenntnisse verhehlte er. Hamid wollte gefeiert werden. Hülyas Verehrerinnen fanden ihn unmöglich. Hülya war in Deutschland aufgewachsen. Sie hatte eine Professur an Notre Dame, Ohio, ausgeschlagen, um in Ankara zu lehren. Ihr Familienname war mit der türkischen Elite seit Kemal Atatürk verbunden. In der Universität verstand man Hülyas Entscheidung für Ankara als patriotischen Akt und Heimkehr zu den Wurzeln. Man erwartete von ihr, im Land ihrer Väter nichts weiter als glücklich zu sein. Die geringste Bewölkung wurde diskutiert. Während die türkisch sozialisierten Akademikerinnen als engagierte Staatsbürgerinnen in einer besonders dynamischen Phase der Gesellschaft (die Adalet ve Kalkınma Partisi krempelte alles um, und besser man war dafür und nannte den Rückschritt Fortschritt), eher enthusiastisch als kritisch waren, neigte Hülya zur Skepsis. Schließlich trennte sie sich von Hamid, so dass er sich wieder in Berlin korrumpieren lassen konnte. Erst mit der militanten Europaverächterin Xiao-Hui, die ihn am Flughafen abgeholt hatte, dann mit Amber (Syrien), Nadine (Frankreich/Libanon), Margarete (Kuba), Abigail (USA) und Victoria (GB). Inzwischen ist Hamid bei Thaïs (Frankreich/Libanon) angekommen. Das Verhältnis liegt in den letzten Zügen. Das Ende nimmt Hamid gemeinsam mit Ulrike (Deutschland/Ghana) vorweg. Sie probieren einander im Café Jamal eines Nachts, während Thaïs mit Hamdis Onkel Massoud vorliebnimmt und so für ausgeglichene Verhältnisse sorgt.

Ulrike arbeitet im Café und studiert Geschichte. Beide Beschäftigungen verbessern ihre Originalität und Verwegenheit auf dem Schlachtfeld unbrauchbarer Vergleiche. Sie entdeckt eine Ähnlichkeit Hamids mit Ahmad I. al-Muqtadir, dem Emir von Saragossa zur Zeit der ersten christlichen Jahrtausendwende; als die Katalanen für Franken genommen wurden. Ich glaube nicht, dass ihr vom ersten Thronfolger aus dem Geschlecht der Banū Hūd je gehört habt, meines Wissens zeigt ihn kein Bild, doch kennt ihr alle den Ritter, der Muqtadirs Herrschaft in der Reconquista dann doch nicht sicherte.

Das war ein Mann, der sich „unbelästigt“ (Quelle: Cantar del Mio Cid) bewegen konnte. Er hieß Rodrigo Díaz de Vivar, wurde El Cid genannt, und diente nach einem Zerwürfnis mit der eigenen Bagage als kastilischer Söldner maurischen Fürsten. Muqtadir war nur einer seiner Arbeitgeber.

El Cid verheerte das Land, das ihn verehrte.

Allerdings schwächten die ständigen Kriege das Emirat von Saragossa, so dass nach einem Zwischenspiel der Almoraviden (einer Imazighen Dynastie) Alfons I. von Aragón und Navarra anno 1118 übernahm. Unter neuen Vorzeichen wiederholte sich eine alte Geschichte. Die christlichen Granden zogen in die Häuser der geschlagenen Großmauren und beanspruchten alles und alle darin. Sie setzten ihre Familien mit den Witwen der Verlierer fort. Ihre Nachkommen etablierten sich als Spanier von Geblüt in der erwachenden Nation.

Mit der Schamlosigkeit eines arabischen Feldstechers absolviert Hamid in der Küche des Cafés Jamal einen weiteren Einführungslehrgang. Ihn langweilt die Fortbildung. Sein Onkel könnte Ulrike den Bären erklären, dass die Mansours via dem Stamm der Quraisch mit jenen Umayyaden verwandt sind, die auf der Flucht vor den Abbasiden und unter der Führung von Abd ar-Rahman I. 756 in al-Andalus das Emirat von Córdoba als Exilreich gründeten.

Bedenke nun, dass bis 1492 Mauren auf der iberischen Halbinsel Macht ausübten. Über siebenhundert Jahre hielt sich der arabische Islam auf europäischem Boden. Kaum waren die Mauren Geschichte, kamen die Osmanen.

Besinne dich darauf, dass in dem iberischen Westgotenreich unterdrückte Sepharden im 8. Jahrhundert Bündnisse mit den Invasoren eingegangen sein könnten. Bedenke hier auch Lebensgemeinschaften, die einer langen Diaspora in Nordafrika vorangingen.

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Die Kontingente Walerjewna Andrejewna Jurjewa war mal fidel. Jetzt ist sie tranig. Jetzt sind ihr die Treppen zu anstrengend und der Fahrstuhl macht Angst. Sie verlässt ihre Wohnung nur noch, wenn sie zum Friseur oder zu einer Beerdigung muss. Dann schaut sie hier und da vorbei, sogar im Loch, wie die Kneipe zwischen den Blöcken genannt wird. Was die Jurjewa zum Vegetieren braucht, besorgt Olegs Mutter. Sie hat einen Schlüssel, den Schlüssel hat Oleg nachmachen lassen, deshalb kann er immer in die Wohnung. Die Alte kriegt das nicht mit, sie lebt vor einem dröhnenden Fernseher im Schlafzimmer. Seit ein paar Tagen kennt Emine das kleine Zimmer der Wohnung, ein Kind starb darin. Emine glaubt nicht, dass Oleg schon einmal eine andere in das Zimmer geführt hat.
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Eine neue Heimat der osteuropäischen Nomaden sind die Berliner Verkehrsbetriebe. Emine sitzt in der U2 und beobachtet Unbürgerliche bei der Arbeit. Ein Kind sammelt die Münzen in einem Becher. Ein verspiegelter Dummy faselt indes, es gelänge ihm noch, Druck an der Schmerzgrenze seines Widersachers aufzubauen. (Ein 2018 offenbar gescheitertes Projekt.) Der Dummy hat die Formulierung Druck an der Schmerzgrenze aus einem „Mitschnitt“ (Quelle: Dummy).

Emine betrachtet den Selbstgesprächigen ohne Mitgefühl. Als expansive Erbin Babylons weiß sie, dass die Evolution des Altruismus den Laden des Lebens in Gang hält. Folglich gleitet man am besten über die Kraftbahn der Gefälligkeiten.