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2019-01-17 09:03:04, Jamal Tuschick

Sprachscham - Volker Michels, der Robert Walser dem Suhrkamp Verlag einverleibte, streift durch Walsers Leben und Werk

Robert Walser (1878 - 1956) war seinem Wesen nach ein Alimentierter. Der vollen Einsicht sich versperrend, halfen die Geschwister dem Bruder immer wieder wie aus einer vorübergehenden Notlage. Blieb familiäre Fürsorge aus, gestattete die eigene Kraft Walser bloß den Behelf einer Dachkammerexistenz. Das Ende vom Lied war eine Diagnose, die geregelte Versorgung zuließ - eine Unterkunft in einer Heilanstalt - das Krankenhaus als Pension. Da erholte sich der abgehalfterte Lieferant von Zeitungstexten ab 1929. Walser gab das Schreiben auf, machte in Übererfüllung häuslicher Normen angenehm von sich reden und ergab sich seiner Passion, dem weitläufigen Spaziergang.

Robert Walser, Aus dem Bleistiftgebiet. Mikrogramme aus den Jahren 1924–1925, Band 2: Gedichte und dramatische Szenen.

Hermann Hesse (1877 - 1962) teilte mit Walser Erfahrungen eines verkanteten Anfangs. Volker Michels schreibt: “Beide hatten ... die Schule vorzeitig verlassen”, ihr Bildungseifer war universitätsfern. Die Kollegen nomadisierten eher als zu pomadisieren. Kurz gab es einen parallelen Entwicklungsverlauf, der Walser sein Leben lang zu immer weiter ausholenden, von Ranküne belasteten Vergleichen mit Hesse anregte. Hesse könnte klar gewesen sein, dass Walser der originellere Schriftsteller war. Keine Zielstrebigkeit engt Walsers Wahrnehmung ein. Er versteigt sich im Detail, verehrt Nebensachen, vollbringt Kanzleikunststücke in seinen Mikrogrammen (Alfred Polgar).

Drei Romane entstehen im Augenblick größter Erwartungen in Berlin zwischen 1907 und 1909 - “Geschwister Tanner”, “Der Gehülfe”, “Jakob von Gunten”. Im Weiteren publiziert Walser dreizehn Titel, mit nachlassender Begeisterung der Verleger, so Michels. Schließlich muss der Autor selbst zu Veröffentlichungen überredet werden.

Der Band “Hermann Hesse und Robert Walser” versammelt drei Abhandlungen von Michels und eine Bemerkung von Hesse über Walser, die 1909 im Berliner “Tag” erschien und auf den melancholischen Ton der vergeblichen Werbung gestimmt ist. Hesse weiß, dass Walsers “Freimütigkeit” ein Verhängnis bedeutet. Walser fällt mit dem Freimut aus seiner Zeit und ihm fehlt die Arroganz als Fallschirm.

Zuerst liefert Michels einen biografischen Abriss. Dann ergründet er Hesses Verhältnis zu Walser zumal in den Stadien der Internierung. Schließlich schildert er den Liebenden. Walser unterscheidet grundsätzlich nicht zwischen dem Reiz einer Landschaft und weiblicher Vorzüglichkeit. Was ihn anspricht, stellt er in keiner Hierarchie steil. Er sieht “Mädchen wie klingende Blumen (oder) gedichtete Düfte”. In seiner extremen Durchlässigkeit erscheint Walser besonders modern. Michels spricht über ihn wie man über Peter Handke und Friederike Mayröcker spricht. Das ewig Gegenwärtige, von der Zeit nicht Kompostierte seit Büchners Lenz hat auch in Walser einen Zuträger.

Früh fühlt er sich “vom Leben verneint”, obwohl er in einer eher annehmenden Umgebung seine Sonderrolle sucht. Nach dem vorzeitigen Tod der Eltern nimmt ein älterer Bruder ihn in Obhut. Karl weicht seiner Theater- und Kunstleidenschaft als Kulissenmaler ins Handwerkliche aus, während sich Robert ästhetisch radikalisiert. Erste Gedichte erscheinen im überregional kursierenden Feuilleton. Der Poet folgt dem Bühnenbildner nach Berlin. Karls plötzliches Ansehen im Kreis um Max Reinhardt hilft Robert. Türen öffnen sich, Walther Rathenau, Bruno Cassirer und Samuel Fischer interessieren sich. Die bürgerliche Rendite seines künstlerischen Kapitals kann Walser nicht einstreichen. Er versagt an der Schwelle zum Erfolg und kehrt dem Schauplatz eines vielversprechenden Anfangs den Rücken. In der Schweiz vermindert sich Walser, bis er wie ein Emigrant dasteht und ein Koffer alles aufnimmt, was ihm gehört.

Die Armut paart sich mit kauziger Unbeschwertheit. Walser passt sich seinem verrutschten Leben an, indem er sich eine Narrenkappe aufsetzt. Schleppend kommt in Gang, was Jahre später als Schizophrenie erkannt wird.

Walter Benjamin prägte das Wort von der Schweizer Sprachscham. 1929 kolportiert er in einer Kritik: “Von Arnold Böcklin, seinem Sohn Carlo und Gottfried Keller erzählt man diese Geschichte: Sie saßen eines Tages wie des öfters im Wirtshaus. Ihr Stammtisch war durch die wortkarge, verschlossene Art seiner Zechgenossen seit langem berühmt. Auch diesmal saß die Gesellschaft schweigend beisammen. Da bemerkte, nach Ablauf einer langen Zeit, der junge Böcklin: “Heiß ist's”, und nachdem eine Viertelstunde vergangen war, der ältere: “Und windstill.” Keller seinerseits wartete eine Weile; dann erhob er sich mit den Worten: “Unter Schwätzern will ich nicht trinken.””

Benjamin versteht Walsers Kunst so: “Exzentrischer Wortwitz trifft bäurische Sprachscham”. Walser überwindet die Scham, indem er sich in eine “Desperadostimmung” versetzt. “Alles scheint verloren” im “Wortschwall”. Benjamin spricht von Verwahrlosung, Ungeschick und einem “Narrenerbteil”. Jeder “Gedanke”, wie er “daherstolpert, ist ein Tagedieb (und) Strolch”.

Damit erreicht Walser eine Menge, die Masse jedoch nicht. Er lebt mit der Unterstellung, seinen Erfolg eigensinnig zu hintertreiben. Er fühlt sich herausgefordert und angestachelt von Hesses Produktivität. Hesse aber, so Michels, verfolgt Walser weiter mit Wohlwollen und kleinen Gaben. Er zeigt Gönnergröße und übergeht Reprisen des Unmuts, in denen Walser Hesse prellt.