Shafak brach das Gesetz des Schweigens, indem sie sich zum Völkermord an den Armeniern äußerte. Eine Anklage wegen Beleidigung der Republik nach Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuchs wurde fallengelassen. Türkische Nationalisten werfen ihr kulturellen Verrat vor, weil sie auf Englisch schreibt. Shafak ist trotzdem die meistgelesene Autorin in der Türkei. Den Zuspruch versteht man richtig als Hinweis auf eine gesellschaftliche Spaltung.
Shafak ist eine Meisterin in der Schilderung des zynischen Umgangs politischer Rückwärtsgeher mit demokratischen Spielregeln. Das Credo der Lupenreinen: „Wir benutzen die Demokratie wie eine Straßenbahn. Wenn wir angekommen sind, steigen wir aus.“
„Autoritäre Gesellschaften sind sexistisch.“
Shafak analysiert in ihrem Werk eine Türkei, die nicht mehr laizistisch ist. Sie beschreibt Paradoxien einer konservativen Revolution. Die Gesellschaft verweigert ihre Emanzipation zugunsten eines religiösen Cocooning - als Reaktion auf Schock und Scham in Konfrontationen mit mehr als einer Moderne seit den letzten osmanischen Zuckungen. Die Türkei startet nun hinter den Markierungen von Atatürk.
Shafak warnt: „Wer die Türkei isoliert, spielt den Nationalisten in die Hände.“
„Die Überflüssigkeit der Demokratie in der islamischen Welt“ ist zu einer intellektuellen Flaniermeile geworden. Zu Wildreisrisotto und Kaviar sehnt sich die Creme nach einer „fürsorglichen Diktatur“. „Demokratie ist reine Zeit- und Geldverschwendung”, heißt es in Shafaks letztem Roman „Der Geruch des Paradieses“.
Sei wie das Wasser, sagt sie mit Bruce Lee. Mit Antonio Gramsci bietet sie dem Auditorium einen Trost für den Totalverlust der westlichen Fortschrittsgläubigkeit: „Er glaubte an all den Pessimismus des Verstandes und an all den Optimismus des Willens.“
„Totalitären Staaten Unterworfene sind in ihrer Mehrzahl unglücklich.“ Individuelles Unglück führe zu staatlicher Instabilität.
Hier nun meine Besprechung von „Ehre“
Anatolisches Allgäu
Elif Shafak legt in „Ehre“ die Wurzeln einer kurdischen Familie frei
Als anatolische Bauern in Westeuropa zu Arbeitern wurden, traten sie aus „dem Schatten Gottes auf Erden“. Die Industrialisierung der Türkei hatte ohne sie stattgefunden. Sie kamen in eine fremde Moderne. Der Kulturschock war ihr Geheimnis. Elif Shafak schlägt Kapital aus dieser Erschütterung. In „Ehre“ legt sie die Wurzeln einer kurdischen Familie frei, für die Türkisch eine Fremdsprache und Mündlichkeit Tradition ist. Shafak folgt den Lebensbahnen der Zwillingsschwestern Pembe und Jamila. Eine kommt herum und um, die andere bleibt als Hebamme und Heilerin ledig in der alpinen Vaterwelt. Erzählt wird aus den Perspektiven aller möglichen Familienangehörigen.
Elif Shafak, „Ehre“, Roman, Kein & Aber, 528 Seiten, 24.90 €
Da ist Pembe, die den Großstädter Adem heiratet, der sich lieber mit ihrer Zwillingsschwester verbunden hätte. Pembe verlässt mit Adem ein anatolisches Allgäu, in dem ein animistischer Islam wie hinter Schneewittchens sieben Bergen kräuterkundig in den Strom der Generationen fließt. Sie folgt ihm nach London und verliert ihn an eine Tänzerin. Sie verliert einen haltlosen Spieler als Gatten und gewinnt einen kosmopolitischen Koch als Liebhaber. Doch diese Volte im Leben von Entwurzelten hat in der archaischen Logik tödliche Konsequenzen.
Elif Shafak gibt dem Leser eine Chance, die Zwangsläufigkeit zu erkennen, in der alles auf Tod (zur Abwehr der Schande) hinausläuft. Zumal dann, wenn die Krux der Ehre erklärt wird, unterstützt der Roman die Einbildungskraft, so als säße man im Kino. Man liest einen Film.
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Schwäche nistet in Adem, sie ist sein Schicksal. Er unterwirft sich ohne Zwang und ergibt sich ohne Not. Aus dem Istanbuler Jungen wird ein trauriger Zocker in den indischen Spielhöllen von Hackney. Sein ältester Sohn Iskender sucht den fremdgehenden Vater, um ihm von der abwegigen Mutter zu berichten. Der eine erwartet vom anderen ein Strafgericht nach alter Väter Sitte. So verdient sich Elif Shafaks Roman seinen Titel „Ehre“. Der Mord bleibt als Tat am Sohn hängen. Er fängt dafür vierzehn Jahre, die er in Shrewsbury ausbrütet. Vielleicht ist das Motto von „Ehre“ direkt auf ihn gemünzt: „So weit seine Erinnerung reicht, hat er sich als Prinz des Hauses gefühlt und seine Mutter als seine fragwürdige Gönnerin und besorgte Beschützerin.“ (J.M. Coetzee. „Der Junge. Eine afrikanische Kindheit“)
Da der Einfluss einer Frau mit ihren Söhnen wächst, sind sie Helden in den türkischen Mütterbiografien. Elif Shafak schreibt über die abgeleitete Macht der Mütter. Aus der westeuropäischen Perspektive liest sich das wie eine diskrete Kritik an Herrschaftsverhältnissen, Iskenders Schwester Esma obliegt es, den Mörder ihrer Mutter an seinem Haftende abzuholen. Ihren Zwillingstöchtern verschweigt sie das biblische Verbrechen des Onkels: „Die Wahrheit … zu vergraben, … ist bei uns eine Familientradition.“
Die Autorin leuchtet in Verhältnisse ohne Elektrizität, wenn sie die Geschichte von Jamila und Pembe erzählt. Sechs Töchter brachte Esmas Großmutter zur Welt. Sie fühlte sich von Gott geschnitten, da er sie keinen Sohn gebären ließ. In ihrer Welt bleibt Frauen nur Scham, während Männer Stolz haben. Hier überlebt ein Glaube an Geister, die im Ginster hocken, und den Frieden der Mädchen mit Schande gefährden. Auch Jamila gerät nach einer Entführung in den Strudel der Verdächtigungen, die sich auf nichts anderes als auf ihre Virginität beziehen. Sie wird ihrem Milieu unheimlich. Das ist dann ihre Rolle, isoliert und beinah stigmatisiert am Rand der Dorfgemeinschaft zu existieren. Am Rand der Gesellschaft siedelt ferner Pembe, in der Migration verstärkt sich das Einengende. Die Minderheiten kapseln sich mit hermetischen Auslegungen ihrer überkommenen Wertvorstellungen ab. Pembe arbeitet in einem Haushalt als billige Kraft. Iskender vertritt den abwesenden Vater mit der Verständnislosigkeit seiner Jugend. Zudem wird er agitiert. Man suggeriert ihm die Unvereinbarkeit westlicher und muslimischer Vorstellungen. Man bläut ihn mit einem Ehrbegriff, der erst Iskender und dann seine Familie sprengt. Vor ein paar Jahren hätte ich diesen Begriff von Ehre noch hohl genannt, aber längst steht außer Frage, dass er seine Gegenstände immer weiter findet. Vielleicht erklärt das die Faszination von „Ehre“. Im England der erweiterten Gegenwart wehren sich ethnisch differente Randgruppen mit dem Konservatismus ihrer Herkunftsgesellschaften gegen eine Mischung aus Rassismus und Aufklärung.