Er nannte sich Jom nach einem Karamellriegel, der als Schnapsidee eines Schwalbacher Unternehmers der Weltmarke Mars („bringt verbrauchte Energie sofort zurück“) Konkurrenz machen sollte. Joms Spezialität war lyrischer Fäkalschmäh; vorgetragen in der Schulbibliothek an besinnlichen Nachmittagen, die als Veranstaltungen mit Probebühne- und Jeder-darf-mal-Charakter deklariert waren. In dem (um eine Siedlung der Neuen Heimat erweiterten) Dorf meiner Kindheit und Jugend zog die Kultur ein. Bis dahin hatte es nur Kirmes, Kirchenchor und einen Geschichtsverein gegeben. Die Dorfgeschichte ließ sich tausend Jahre zurückverfolgen. Gesellschaften eines ursprünglich sächsischen, dann fränkischen Hofes, aus dem das Haus Hessen hervorging, nutzten es als Partymeile auf ihren Jagdausflügen. Den Hunden der Herrschaften wurde der Marsch geblasen. Wohnte ein Fürst der Andacht bei, durften sie mit in die Dorfkirche.
Einige Familien waren seit dem 18. Jahrhundert im Dorf ansässig. Es gab drei dramatisch alte Großbauernhöfe, die nie aus der Hand einer Familie gegeben worden waren. Im Jetzt von 1977 spielte das alles keine Rolle für mich. Ich war ein Idiot der Gegenwart.
Joms Beleidigungen trieben als satirische Zuspitzungen auf. Wer etwas auf sich hielt, so wie die Schulpsychologin Ätna von Weidenfeld, verstand mit ihrem bis in die Steinzeit gut dokumentierten Stammbaum die Pointen.
Mein Vater verstand sie nicht. Er fühlte sich stellvertretend für alle unbescholtenen Bürger und persönlich als Vorsitzender des sozialdemokratischen Ortsvereins angepisst, sein Stellvertreter, der Kunstmaler und HBK-Absolvent Paul, war auf der Straße von Terrorverstehern attackiert worden. Dem Genossen und Bäckermeister Herbert hatte man Kot an die Türklinke geschmiert. Wir lebten in harten Zeiten. Mein Vater zeigte Jom wegen übler Nachrede und aus Prinzip an. Die Anklageerhebung war ein Prunkbau der Kollegialität, mein Vater hatte beruflich ständig mit der Staatsanwaltschaft zu tun; das Gericht vertagte sich mittags in die Rathauskantine; man aß zusammen, polierte den Nachtischapfel vor den Augen zuvorkommender Zeugen der eigenen Existenz. Die SPD regierte auch beim Mittagessen. Das Gemüse schmeckte am besten wie aus der Dose. Die Sonderaromen des Convenience Food waren noch Offenbarungen. Scham sorgte dafür, dass bei Tisch keine Fleischfäden aus den Zahnzwischenräumen gefriemelt wurden.
Da saßen Herolde des Neoliberalismus zynisch im deutschen Herbst; aufgeheizt und angefressen von einem terroristischen Doppelschlag. Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer war entführt worden so wie die Lufthansamaschine Landshut. Allgemein herrschte das Gefühl, man könne sich nicht länger heraushalten.
Parteinahme schien geboten. Die Gesellschaft war gespalten. Weimar ließ grüßen. Ein Bürgerkrieg stand vor der Tür. Manche hatten sich schon bewaffnet. Andere recherchierten noch im Bekanntenkreis. Mein Vater, der alte Pazifist, lehnte Waffen ab. Er verwickelte alle Genossen, die sich lauthals vom Feind nicht überraschen lassen wollten, in ein jeden Widerstand brechendes Gespräch. Es gab nichts Zermürbenderes, als einen Austausch der Standpunkte im Rahmen freier Meinungsäußerung mit meinem Vater.
Die Juristen trugen ständisch stolz ihre Mensurnarben zur Schau. Sie waren als Alte Herrn selbstverständlich in einer Verbindung. Der Habitus schillerte Richtung Casino und Hakenschlag. Umso unlustiger die nächste Verhandlung für den Angeklagten zu werden versprach, desto humorvoller stimmte man sich ein. Verteidiger vom Schlag eines Otto Schily, Siegfried Haag oder Klaus Croissant bestimmten nicht das Bild.
Als Held der Stunde erschien bundesweit der Krisenmanager des Kanzlers Hans-Jürgen Wischnewski, auch er ein Gewerkschaftler alter Schule.
Vor Gericht leierte Jom einen auswendig gelernten Rechtfertigungsaufsatz herunter. Er zeigte nichts von der auftrumpfenden Schamlosigkeit, die ihn sonst auszeichnete. Da begriff ich: der schreibt seine Häme Poeme nicht selbst. Der performt nur.
Dem sitzt eine fremde Intelligenz im Nacken. Die lässt ihn jetzt hängen. Aufhängen unter anderen Umständen.
Jom gab zu, dass er eine Marionette war, ein Textaufsager in Abhängigkeit von einem Mastermind namens क्याबकवास. Wir bekamen das Genie nie zu sehen.
Noch war der 18. Oktober 1977 nicht gekommen, die GSG 9 lag in der Deckung. Später sollte ich Schwierigkeiten haben, den Chef der „Helden in Mogadischu“ nicht mit dem Lebensgefährten von Petra Kelly zu verwechseln.