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2019-02-28 07:25:41, Jamal Tuschick

Rocko Schamoni erzählt von früher auf St. Pauli. Onkels Sprecharie zog die Matrosen aus dem Meer der Möglichkeiten ins Klein-Paris. Sein Vortrag gehorchte der Weisheit:

Stumpf ist Trumpf

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Sie nennen ihn Onkel. Der bürgerliche Name ist im Volksmund untergegangen. Onkels Sprecharie zieht die Matrosen aus dem Meer der Möglichkeiten ins Klein-Paris. Sein Vortrag gehorcht der Weisheit: „Stumpf ist Trumpf“. Von Onkel, der St. Pauli im Blut hat und allen gebietstypischen Beschäftigungen gekonnt nachgeht, lernt Wolfgang Köhler die Koberei. Gekobert werden Passanten. Man führt sie den „Melkerinnen“ in den Animierlokalen zu.

„St. Pauli ist eine riesige Melkmaschine“, weiß Onkel.

Köhler lernt schnell. Er ist auf St. Pauli richtig, auch wenn ihm Onkels Zynismus abgeht. Onkel glaubt, dass „die Angst vor der Freiheit“ den Freier macht, und der Freiheitsdrang den Loddel oder Luden, den nur „die Soliden“ als Zuhälter bezeichnen.

Rocko Schamoni, „Große Freiheit“, hanserblau, 287 Seiten, 20,-

Rocko Schamoni schildert den verbürgten Werdegang eines Paradiesvogels unter Faust-Pfauen auf den hanseatischen Magistralen des käuflichen Sex. Köhler erlebt den Aufstieg vom Tellerwäscher zum Millionär in der Variante vom Laufburschen zum links ziselierten, malenden und dichtenden Puffboss. Seiner Initiationsgeschichte schickt Schamoni eine Prise Quartiersgeschichte voraus. Der Abriss zeigt, dass die aktuellen Professionen von St. Pauli eine Tradition gewerblichen Außenseitertums fortsetzen. Der Autor erkennt eine historische Linie vom Pest- zum Kontakthof.

Kein Gefängnis in Deutschland ist länger in Betrieb als die 1716 von August dem Starken eröffnete Justizvollzugsanstalt Waldheim. Waldheim ist eine Kleinstadt in der Nähe von Chemnitz. Da wird Köhler geboren. Er lernt im väterlichen Betrieb, zieht früh aus und dreht erst einmal zwei Kreise nach den Margen seiner Herkunft. Erst heuert er als Bergmann bei der Wismut an, bevor er die Laufbahn eines Volkspolizisten anstrebt.

Köhler scheitert im Regulären. Seine eigene Umlaufbahn erreicht er in einer Serie randständiger Beschäftigungen, die in der nomadischen Lebensweise eines Zirkusrequisiteurs ihre Form vollständig zeigt. Köhler strandet endlich in einem Nachtasyl. Das ist der Tiefpunkt und das Ende seiner nicht-sesshaften Existenz.

Auf St. Pauli wird Köhler heimisch. Er macht da Karriere.

Schamoni erzählt das sentimental. Er verschenkt die Verwandlungsgeschichte eines Streuners. Deutlich erscheint Köhler erst in dem Hamburger Rahmen als Angesaugter. Er setzt sich fest in der Ära der British Invasion in einer besonderen Spielart. Köhler sieht zum ersten Mal die Beatles, eine Rock’n’Roll-Coverband „ohne eigenes Material“. Horst „Hoddel“ Fascher ist der Impresario des Augenblicks (und Anführer einer boxenden Brüderschaft). Fascher bucht die Gruppen, die einer Ära den Soundtrack liefern.

Jean Genet und Hubert Fichte sind Gewährsleute sowohl eines Lebensstils im Geist von „der Expeditionscharakter muss erhalten bleiben“ als auch der Exklusivität (Legitimität) des schriftstellerischen Interesses an einem Bordellbetreiber, wie extravagant und erhaben über die bloße Akkumulation von Schnödem und der Ausbeutung von Frauen auch immer. Sie beglaubigen Schamonis À la recherche du temps perdu.

Federico Fellini und Jean-Luc Godard sind stilbildende Paten des Dargestellten. Alles beginnt 1960 mit der Ästhetik von „Außer Atem“, abgesehen von dem „Lied der Straße“ als Formulierungshilfe in den vergangenen Jahren der Wanderschaft. Köhler findet die Muße zu malen und eine Muse, die Maulwurf genannt wird.