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2019-03-11 06:17:19, Jamal Tuschick

Didier Eribon liest „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ soziologisch. Ihm entgeht nicht, dass Marcel Proust die Homosexualität zum heimlichen Dreh- und Angelpunkt seines literarischen Universums erklärt. Das Verdrängte tritt massiv in den Kulissen auf.

Invertierter Gesellschaftsflor

Der geschulte Blick erkennt Homosexualität auch da, wo sie nichts von sich weiß. Der invertierte Gesellschaftsflor haftet an jeder Champagnerflasche und zischt mit den Boten durch die Personalsphären großer Häuser.

Didier Eribon, „Theorien der Literatur - Geschlechtersystem und Geschlechtsurteile“, übersetzt von Christian Leitner, Passagen forum, 11,30 Euro

Eribon unterstellt Proust eine Gesellschaftsbetrachtung „durch das Prisma der sexuellen Inversion“. Ich glaube, dass Proust radikaler vorgeht. Er entdeckt in der Heterosexualität das Verkappte und platziert es wie ein Wahrzeichen auf dem Sprachplateau.

In dem Proust’schen Prospekt erscheinen die Signaturen der Fortpflanzungsgemeinschaften als Fassaden. Schwule und Lesben wahrten Jahrhunderte den Schein in heterosexuellen Konstellationen und betrieben im Weiteren Fassadenkletterei.

„Die Homosexuellen waren gute Familienväter und hielten sich eine Geliebte nur, um den Schein zu wahren.“ Baron Charlus über die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.

Proust antizipiert den Übergang von einer diskriminierenden Schilderung der Homosexualität zu einer universellen. Er ordnet die homosexuelle Praxis einem weiteren Feld zu und kommt via Bisexualität auf den Punkt:

„Sie lieben Frauen und zeigen es, sie lieben Männer und verstecken sich dabei.“

Der Antizipation verweigert Proust die Entschleierung. Charlus lässt er grotesk altern: als Repräsentationspopanz einer Generation von Gestern, die in der Gegenwart nichts mehr zu bestellen hat.

Zwischen Rollen und Identitäten schwanken die Figuren der Recherche durch ein Panoptikum der Inkohärenz. Proust fällt sich selbst ins Wort. Er monumentalisiert Charlus als widersprechende Instanz und demontiert ihn als Person. In den Verschiebungen verschwindet Prousts ursprünglichste Theorie von Homosexualität, nach der eine im Männerkörper Gefangene am Begehren verzweifelt. Sie sehnt sich nach einem heterosexuellen Mann und findet in Beziehungen zu Homosexuellen nur Ersatz.

Didier behauptet von Jean Genet, er habe Proust fortgeschrieben. Bei Genet halten Prousts „Burschen und Matrosen“ das Heft in der Hand. Auf den ersten Blick spielen sie keine Rollen, sondern sind dies oder jenes mit sturer Eindeutigkeit. Didier exponiert die Unterscheidung zwischen „Männer“ und „Tanten“ – „den Mackern und ihren Frauen/Jungen“.

Die Kategorien spiegeln gesellschaftliche Urteile und natürlich auch die Praxisbezogenheit der Anschauung im Geist einer Orthodoxie. Die Paare heiraten nach eigenem Ritus.

„Ich trug weder Schleier, Blumen noch Kranz … aber in der kalten Luft wehten alle erhabenen Hochzeitsgedanken um mich herum.“

Die üblichen Dramen werden zur Aufführung gebracht. Die natürlichen Abläufe untergraben die Klarheit der Gliederung. Vormalige Eleven wechseln ins Lager der Galane und übernehmen im nächsten Durchlauf eine Braut. Macker unterwerfen sich besseren Schlägern. Die Eindeutigkeit zersplittert und erzeugt beim Erzähler die Krise einer versagenden Ordnung. Mit Verachtung lehnt er sich gegen sein Unglück auf.

Genet räumt die Spielarten der Sexualität und des Verbrechens in Gilden- und Zunftfächer ein. Der zur Dominanz Begabte vermag auch als Dieb mehr als „die parfümierten Jungs“. Er verliert seinen Nimbus, wenn ihm die eigene Stärke nicht mehr genügt. Fast alle sind dazu verdammt, diesen Punkt zu erreichen.

Eribon findet bei Genet das Material für eine „Anamnese der verborgenen Konstanten“ (Pierre Bourdieu).