MenuMENU

zurück

2019-03-30 06:39:36, Jamal Tuschick

Nachrichten aus dem Bauch der alten SPD

Anthroposophische Architektur

Eingebetteter Medieninhalt

Raumfahrer des Mittelalters

Macht euch die Erde untertan. Die weiße Welt kommt aus dem Geist pflügender Pioniere. Wo immer sie Neuland entdeckten, war es ihr Land und die Leute, die sie antrafen, sahen ihnen höchstens ähnlich. Sie unterschieden zwischen wilden und zahmen Wilden, in Lateinamerika unterschieden sie den Indio manso vom Indio salvajes. Im kolonialen Begreifen sympathisierte jeder Kulturfolger, so wie Silberfische und Wanderratten, erfolgreicher mit den Zivilisationsgesandten als die Indigenen. Die katholische Kirche bewahrte dem „Indio manso“ ein Daseinsrecht in seiner Verniedlichung. Sie stellte ihn als Kind der Wildnis hin. Den Mut, die Sache blutig zu Ende zu bringen, forderten andere. Sie nannten es Feigheit, den aus dem Kuckucksnest der Steinzeit gefallenen Wilden im Elend zu lassen, wo er doch nichts anderes als das Elend vererben konnte.

In einem nächtlichen Disput verstieg sich Tillmann „Tille“ Freischmidt dahin zu behaupten, in den Quarantänen der vergangenen Gegenwart von Achtzehnhundertschnee sei für die Versprengten aus unserer aller Frühzeit nichts zu holen gewesen. Ein exzessiver Durchbruch zeigte mir nach einer Berg- und Talfahrt durch Zeit & Raum (auf dem Tender einer Acid-Lokomotive) wie ich in den Lumpen der Neuzeit, ein Navigator im Dienst der spanischen Krone, heruntergerockt bis zum Anschlag, zum erste Mal sah, wovon Europa träumte. Das kollektive Unbewusste der Alten Welt fand in Amerika, Afrika und Australien seine stärksten Bilder der Andersartigkeit. Das Andere (der Fremde in seiner natürlichen Umgebung) wurde der Natur (Barbarei) zugeordnet, während sich die Raumfahrer des Mittelalters vom Irdischen distanzierten.

Schockhaft und traumatisch kollidierten altweltliche Typen mit steinzeitlichen Exoten. Seit der Antike war die Terra Australis ein Gegenstand von Gedanken und Phantasien gewesen. Plötzlich war sie so erschreckend real wie ein Insekt unter der Lupe. Ich dachte, so etwas Hässliches in gigantisch würde uns noch nicht mal den Tod als Trost lassen.

Tille war so stoned, dass er die Wand ansprach. Im Kamin flackerten die Scheite bedrohlich. Gerda kroch in meine Richtung, vielleicht bewegte sie sich auch gar nicht; in den niederhessischen Landkreisen meiner Leidenschaften waren wir uns aufgefallen.

In einer Sklavenhaltergesellschaft ohne Sklaven dienten Besatzungskinder dem unnachgiebigen Mahlwerk der Verachtung. Gerda war ein Besatzungskind. Ihre Mutter hatte in zweiter Ehe die Normalität in Person geheiratet, doch für Gerda kam die Regulierung zu spät. Die Verhältnisse schlugen ihre Reißzähne in das Mädchen, das den Weg der negativen Identifikation einschlug. Als wir uns begegneten, steuerte Gerda die Sümpfe der Selbstaufgabe an.

Jede Kindheit ist ein Universum, in dem alles zwingend erscheint; ist eine Welt in der Welt. Eine Störung in dem geschlossenen Bezugssystem kann bereits eine hochgezogene Braue auslösen, so wie ein ignorierter Gruß, eine verächtlich gemachte Werbung, eine herabsetzende Bemerkung. Im Gegenzug wirken Spielarten der Anerkennung besonders intensiv.

Ich schilderte mir eine planetarische Kollision als kleinstädtisches Langzeitmanöver. Gerdas Mutter versuchte den Degradierungen eines ehemaligen Liebchens zu entgehen, indem sie die Tochter öffentlich herabwürdigte. Das war Exorzismus, der die Mutter aus der Schande bringen sollte. Doch das Dorf vergaß nicht. Sein Gedächtnis war ein vertrocknetes Apfelkerngehäuse; eine Angelegenheit für die Ewigkeit.

Gemeinsam mit Simone Schilling hatte ich zwei Jahre ein Jagdhaus der Försterei Fahrenbach im Kaufunger Wald belebt und als Zivildienstleistender bei der AWO eine ruhige Kugel geschoben. Allerlei versehrte mich sehr, so dass ich neunzig Prozent meines kampfsportlichen Vermögens verlor. Auch die verbliebene Potenz nutzte wenig, ich konnte überhaupt nicht mehr explodieren und kaum noch athletisch agieren. Ich kehrte dann dahin zurück, wo ich nie zuvor gewesen war: zu den Anfängen des Karate. Jahrhunderte dienten die/der Vorläufer des Karate ausschließlich der Selbstverteidigung. Die muss hingehauen haben. Anderenfalls gäbe es keine Traditionslinie bis in die Gegenwart. Die Pioniere des Okinawa Te gehörten nicht zum Kriegeradel. Karate ist kein Derivat herrschaftlicher Devisen. Vielmehr waren die Ersten mehrfach deklassierte und von Mangelerscheinungen geschwächte Bauern, die nicht das Recht hatten, sich konventionell zu verteidigen. Sie salzten den gesellschaftlichen Bodensatz mit ihrem Schweiß, und sie hatten die denkbar schwersten Feinde – beritten, bewaffnet und befugt. Armiert an Leib und Seele. Staatlich und halbstaatlich autorisiert.

Für mich ergab sich daraus die Einsicht, dass man keinen Status braucht, um zu kämpfen.

Ich stelle mir schlecht genährte, von Gicht geplagte, weitgehend entrechtete Männer vor, die gegen hochmütige Schwertkämpfer antraten. Nehmt den Doppelschnitt als Beispiel. Wir führen die Klinge vom Feindesleib zum Hals des Miesen. Man kann den Doppelschnitt mit einer schneidenden Handkante nachvollziehen. Nimmt man den Unterarm dazu, wird aus dem Doppelschnitt ein Doppelhieb. Stellt man sich weiter vor, dass der Kämpfer eher daran gewöhnt ist, einen Hammer zu führen als ein Schwert, dann erscheint es natürlich den Vorzug eines Schnitts mit dem Vorzug eines Schlags zu kombinieren.

Die Kombination bedarf abgehärteter Gliedmaßen.

Ich glaube, dass in einigen Karate Stilen die Abhärtung zu kurz kommt. Abhärtung stellt einen Wert an sich da. Sie verändert das Bewegungsbild. Mit abgehärteten Unterarmen greift man anders an und pariert anders als bloße Hüftschwungexperten angreifen und Angriffe parieren.

Hüfte & Hammer bringen das gewünschte Ergebnis.

„Revolte kennt nur Angriff und Scheitern.“

Las ich eben in Sandra Gugićs Gedichtband „Protokolle der Gegenwart“. Ich schiebe schnell ein paar Bemerkungen zu Gugićs Gedichten ein.

Reversibles Versehen

Die Sache fängt gut an. Sofort baut sich Spannung auf. Aus Doublebind wird Doubleblind. Die „Beobachterin“ erfährt nicht, wer ihre Prüfleserin ist, siehe Wikipedia. Sie befindet sich in durchgezogener Kleinschreibung „unter aufsicht in quarantäne“.

Sandra Gugić, „Protokolle der Gegenwart“, Gedichte, mit Illustrationen von Oliver Hummel, Verlagshaus Berlin, 125 Seiten

In ihrem Arrest fertigt sie „to-do-listen der Ohnmacht“ an. Sie sucht da „nach alltäglichen beweisen moralischer insolvenz“.

Die Zitate stammen aus einem Gedicht. Es ist den anderen vorgesetzt und weist noch mehr schöne Stellen auf.

Das zweite Gedicht klingt wie eine Trompete der Empörung. Ich horche auf. Die Rede ist von „eingezogenen köpfen (die sich) vor den kommentarspalten wegducken größere konflikte vermeiden zugunsten einer exklusiven identitätsvorstellung“.

Gibt es eine größere Exklusivität als das ein lyrisches Ich?

Ich vernehme den politischen Drive der Dichterin, eine aufgeraut-abgeklärte Attitüde, und finde meinen Mainlabor-Titel im „reversible(n) versehen“.

Ein reklamierendes Ich schlägt vor, „den ganzen körper als hirn (zu) benutzen“.

Tun wir das nicht? Ist nicht der Stoffwechsel ein Resultat unserer geistigen Verfassung? Der Notabwurf bei Angst ließe sich als Hirnschiss beschreiben.

„wenn ich ein mann wäre würde ich abwarten frei nach den gesetzen/von folgerichtigkeit“.

Das Vorauseilende und Mitjubelnde kommt daher, dass niemand zu spät kommen will, denke ich. Wer die Schwelle zur Notwendigkeit sieht, überschreitet sie auch; sich selbst vorauseilend.

Gugićs Gedichte sind Inspirationen, sind irrlichtende Geistesblitze, sind Einladungen zum Weiter- und Wiederlesen. Nur taucht Furor zu oft auf.

Von Gugić zu Gerda

In der letzten Woche meines Zivildiensts trennte sich Simone von mir. Wir gaben das Jagdhaus einvernehmlich auf. Simone zog sich zurück in das Haus ihrer ständig abwesenden Mutter. Die GHK-Professorin für Stadtplanung und Ortsvereinsvorsitzende der SPD lebte und wohnte mit einer Kollegin zusammen. Ich fand sofort eine neue Bleibe. In der Gerdazeit lebte ich auf einem Gehöft bei Veckerhagen an der Werra. Das Anwesen war lange Stammsitz der Familie Schäfer gewesen. Die einst weitverzweigt-einflussreiche Familie wurde von den letzten Strudeln eines Niedergangs über zwanzig, dreißig Jahre, in denen erst nichts mehr dazugekommen und dann allmählich alles Mögliche abhandengekommen war, auf den Boden gezogen. Elvira „Elvi“ Schäfer, ein Brummkreisel des stumpfsinnigen Das-kann-doch-einen-Seemann-nicht-erschüttern-Überlebenswillens, führte eine Sprudelbude am Fernwanderweg. Die Konsumgelegenheit ohne Einkehroption und Klo, ein Schalter und davor der Schöller- oder Langnese-Aufsteller, stand im Mittelpunkt eines Ensembles schief getretener Gartenhäuser. Stand da in einer aufgegebenen Nachbarschaft als vormaliges Idyll.

Die Zeit spielte Rabauke im Verein mit den Elementen.

Ich weilte gern vor der Bude, wo oft auch Onkel Rudi den lieben Gott einen Küfer sein ließ. Rudi fasste gern an, nicht nur Jungen. Man nannte ihn Totengräber. Er war Friedhofsgärtner gewesen. In den Achtzigerjahren arbeitete Rudi nur noch zur Verbesserung von Haus und Garten. Er besaß eines der Einfamilienhäuser am Sonnenhang, die eine anthroposophische Architektur einte. Am Hang schäumte Weißdorn und in Rudis Garten bukettierte Bougainvillea.

Rudi hatte im Kasseler Gefängnis ein Jahrzehnt abgesessen. Darüber konnte er ungerührt reden. Versagend an einfachen Stellen, bejubelte er, der auch schon mal mit der Achselhöhle an einem Stuhlbein hängengeblieben war, das Leben trotzdem.