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2019-04-16 06:02:57, Jamal Tuschick

Bereits die Gesprächsaufnahme mit Fremden entspräche auf Lampedusa dem Bruch eines kulturellen Tabus. Davide Enia recherchierte auf der sizilianischen Insel in den migrantischen Milieus. Der Autor sprach mit Einheimischen, die ihm Vertrauen schenkten, weil er „die Sprache des Südens“ beherrscht.

Die Grammatik des Schweigens

Robert Schindel behauptet, jedes historische Ereignis könne erst nach Ablauf von zwanzig Jahren richtig beschrieben werden. Davide Enia sagte gestern Abend im Italienischen Kulturinstitut nichts anderes. Er sei zu dicht an der Krise gewesen und habe kein Wort genau genug gefunden. Die Rede war von jenen Schiffsbrüchigen, die auf Lampedusa europäischen Boden erreichen und den sizilianischen Inselrhythmus verändern. Enia hat über die Geretteten einen Nicht-Roman geschrieben, insofern er an der Absicht scheiterte, das afrikanische Unglück literarisch zu packen.

„Ich wollte einen Roman schreiben und erkläre mein Versagen mit dem ersten Wort: Notizen.“

Davide Enia, „Schiffbruch vor Lampedusa“, aus dem Italienischen von Susanne Van Volxem und Olaf Matthias Roth, Wallstein, 238 Seiten, 20,-

Es gäbe noch kein Vokabular für Ereignisse in der Verlängerung vermiedenen Ertrinkens. Der Autor widersprach sich selbst mit der nachträglichen Feststellung, die humanitäre Katastrophe ließe sich sehr wohl in der Sprache des Krieges erfassen.

Der bekennende Pathetiker Enia begründete seine Zuständigkeit für das Thema mit seiner Herkunft.

„Ich wurde in Palermo geboren. Ich bin Sizilianer. Lampedusa ist sizilianisch.“

Sollte Enia der Insel ein Angebot gemacht haben, dass sie nicht ausschlagen konnte? Wir werden es nie erfahren. Enia recherchierte in der Gesellschaft seines Vaters.

„Mein Vater ist der typische Vater aus dem Süden. Er ist so stumm wie alle sizilianischen Väter.“

„Es ist leichter mit meiner Katze zu reden als mit meinem Vater.“

Auf Lampedusa begegneten Vater und Sohn der Taucherin Simone, einer Zeugin des küstennahen Bootsunglücks vom 3. Oktober 2013. Damals sank ein mit ca. 545 Flüchtlingen aus Somalia und Eritrea besetzter, in der libyschen Hafenstadt Misrata gestarteter Kutter. Sein Untergang besiegelte das Schicksal von 366 Passagieren.

Simone schilderte die Havarie und das aus der Uferperspektive theatralisch anmutende Entsetzen an Bord. Zeugen wurden „in der Sprache des Südens“ befragt; in einem Dialekt, den Enia als eigenen Kosmos beschreibt.

Auch ein harscher Hüne bot sich als Gewährsmann an. Die Sprache des Südens hatte ganz von ihm Besitz ergriffen. Der alte Taucher stand auf dem Standpunkt: In Seenot sind alle gleich. Als Lebensretter ging er in die Opposition zu seinen konservativen Überzeugungen.

Jede Rettung ist mit einem Dilemma verbunden. Rettet man die drei direkt vor der Nase oder kümmert man sich um das halbe Kind mit Baby ein paar Meter weiter.

Man müsse Sizilianer sein, um das Evokationspotential des Inselidioms begreifen, das historische Echo vernehmen und ein beredtes Schweigen deuten zu können.

Enia nennt den Dialekt eine „Muttersprache“. Die Register des Dringlichen würden für Fremde hinter verschlossenen Türen gesichtet. Das Schweigen vervollständige die Muttersprache.

„Ich bin in diesem Schweigen aufgewachsen.“

Enia deutete eine Grammatik des Schweigens an.

Bereits die Gesprächsaufnahme mit Fremden entspräche dem Bruch eines kulturellen Tabus.

Ankommende haben keine Chance, ihre traumatischen Erfahrungen öffentlich in einer Muttersprache zu verarbeiten. Sie gehen über die schwankende Brücke einer Lingua franca. Viele erleben ihre Rettung als Wiedergeburt.

Wie bringt man das Unbenennbare in die Sprache?

Zum Schluss verkündete Enia: Wir erzählen uns immer dieselben vier Geschichten. – Die Geschichte von der belagerten Stadt. – Das Abenteuer einer Heimkehr. – Die Geschichte von einem großartigen Fund, und die Geschichte vom Tod eines Gottes und dessen Auferstehung.

Enia hat aus seinen Notizen auch ein Theaterstück gemacht. Die Theatralisierung bietet ihm Möglichkeiten, sich vom Grauen zu distanzieren.