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2019-05-25 04:47:18, Jamal Tuschick

„Hände hoch! Mein entsichertes Jahrzehnt“ – Unter diesem Motto steht die Leistungsschau der Nachwuchsschreibwerkstätten im Berliner Haus für Poesie.

Texte aus der Werkstatt

© Jamal Texas Tuschick

Carlotta Frei, Cheikh Anta Belle Kum, Lisa Starogardzki © Jamal Tuschick 

Die Lyrikoffensive geht weiter. Die jungen Dichter*innen, die gestern Abend im Rahmen der 2006 gestarteten Bildungsreihe „young poems“ Texte aus der Werkstatt vortrugen, wissen aus eigener Anschauung nichts mehr von der vor zehn Jahren schlagartig zu Ende gegangenen Nischenexistenz ihres Genres. Alle Dichter*innen spielen auf dem Niveau jener, die wir als Publizierte kennen.

Aus der Hausmitteilung

Die diesjährigen Schreibwerkstätten der open poems und der young poems neigen sich dem Ende zu, und wir feiern das Finale: Sie schreiben Gedichte, sie sind zwischen 18 und 28 Jahre alt – und von Januar bis Mai 2019 haben sie sich einmal im Monat getroffen. Die Gruppe der young poems hat sich intensiv mit Formelementen, Traumbildern und Archetypen auseinandergesetzt, mit der Findung der eigenen Stimme im Schreibprozess. Die Älteren haben in den open poems Textherstellungsmanöver wie „contraintes“ erprobt, nahmen Collage und Übersetzung und zeitgenössische Poetiken unter die Lupe. Im Gespräch sind sie immer wieder auf die eigenen Texte und ihre Machart zurückgekommen.

Lyrik ist eine Freiheit

Lyrik gelingt immer wieder und immer wieder gelingt sie überraschend. So dass man von einem nie zuvor vernommenen Ton hier und einem unerwarteten Bild da sonst wohin mitgenommen wird. Offenbar bringt sich die Sprache immer wieder neu ins Spiel des Lebens. Sie ist eine Freiheit des Menschen.

Teamchefin Birgit Kreipe fand die Ergebnisse „überbordend und verheißungsvoll“. Die Debütant*innen „regten sich gegenseitig zu kreativen Flows“ an, während sie „die Grundlagen des poetischen 20. Jahrhunderts“ erkundeten. Sie fanden lyrische Lösungen, „die Freud überrascht hätten“. Der aus Kassel gebürtige Kierán Meinhardt entdeckt in einer nordhessischen Tiefsee „Vampirtintenfische in der Hölle“. „Wände schließen ihre Augen.“ Für ein lyrisches Du möchte das lyrische Ich „den großen Wagen aus dem Himmel pflücken“.

aber unser widerstand ist eine welle Caoimhe Donnelly

Mir fehlen Zuordnungsmerkmale für folgende Zeilen:

„Die Musik deines Körpers“

„Den Laut deiner Hände, wenn sie mein Gesicht berühren.“

Cheikh Anta Belle Kum feiert das Leben auf der Überholspur. Lisa Starogardzki verherrlicht es in antikem Deutsch. Kum rät dazu „Glücksmomente im Gedächtnis zu integrieren“ und „alles zu genießen, was du hast, solange du es hast“; Starogardzki versetzte mich so sehr in Erstaunen, dass mein Stift verstummte. Sie trug eine poetische Fassung des Allerleirauh-Märchens vor, dass selbständig seiner Wege geht – und einer Entführung der Leser*in gleichkommt. Ich fühlte mich an das Ursprünglichste erinnert und in eine Sphäre ohne Lehnwörter und -begriffe versetzt.

Melanie Irmey schreibt Aktivistinnen-Lyrik gegen das Patriarchat und „seine Wortgewalt“. Große Wut motorisiert diese Produktion.

„Festgeformte Weiblichkeit zieht in Kinderköpfe ein.“

Irmey ruft zum Zusammenschluss auf. Sie singt das Lied der radikalen Solidarität und beschwört den alten Kommunardentraum vom Ich zum Wir.