Du vergisst, dass ich nicht schreibe. Dein Wir kommt aus dir. Doch nicht nur. Ich spüre, wie meine Erinnerungen und die von mir verarbeiteten Erinnerungen anderer Leute in dir arbeiten. Ich wundere mich, wie du aus dir Dinge holst, die in mir sind.
Kontaminationen
Ich vergesse ständig, dass Maryna nicht schreibt. Sie sitzt neben mir wie eine ernsthaft Schreibende. So als wären wir die Ehrgeizigsten in einer sowjetischen Akademie. Zukünftige Nachrichtendienstleisterinnen. Reiner KGB. Knallhart. Wir sind Wehre eines Bilderflusses, der die Welt durchströmt. Den Stream of Consciousness spricht Maryna als kollektives Gedächtnis an. Sie beschäftigt sich mit Erinnerungen, die nicht aus ihren Erfahrungen kommen. Sondern aus Erzählungen der Großeltern zum Beispiel - und zum Beispiel aus Holocaust Dokumentationen, die das Unsagbare in einer nächtlichen Endlosschleife nudeln. Die Kommentare machen die Entwürdigung perfekt. Sie schaffen einen obszönen Matsch, in denen Maryna Männer herumstapfen sieht – im ewigen Mistwetter und in olivgrünen Pfadfinderpelerinen. Mit ihren Dreckschuhen kommen sie in Marynas seelisches Treppenhaus und hinterlassen die Spuren ungebetener Gäste. Das sind Kontaminationen. Die Beweisführungen ihrer toxischen Wirkungen sind schwierig. An diese Stelle passt der verhaltene Vortrag einer Medizinerin vor Gericht. Sie tritt in Berufskleidung auf und trägt ihr Amt zur Schau in flachen Schuhen. Die Frisur ist streng formell wie die ministerielle Zurücknahme einer Einladung.
Maryna fühlt die deutsche Sprache nicht und fühlt nichts in ihr. Die Migration hat ihr ein jahrelanges Nachsitzen auferlegt. Sie sitzt auf einem harten Prüfungsschemel und verlangt sich die Haltungsbestnote ab. Sie will die Eins auch von mir.
Wir reden über unsere MAINLABOR-Freundin Anna Glazova. Sie hat in den Vereinigten Staaten mit einer Dissertation über Paul Celans und Ossip Mandelstams Lyrik promoviert. (Wie allen Postsowjets imponiert uns Bildung. Wir stehen auf akademische Titel. In unserer Phantasie können die Titelträgerinnen gern arm und in einer Kammer unter dem Dach elegisch allein sein. In der Realität ist uns Armut nicht recht. Sie funktioniert nicht.) Anna lebt seit zwanzig Jahren nicht mehr in Russland, dichtet aber nur auf Russisch. Sie trägt einen russischen Sprachmantel, sage ich.
Das Russische ist wie ein Haus, sagt Maryna. Die Malerin sieht überall Architektur. Menschen sind für sie Räume. Patina liefern Menschen, die in Räume(n) eingegangen sind. Ihre Physis imprägniert die Wände. Sie erfahren das Schicksal von Material und enden als Schichten. Die Schichten kann man abkratzen, in Wasser verrühren und Farben damit anreichern.
In Marynas Kunst wird der Mensch entmenschlicht und die Architektur vermenschlicht. Ihre Bilder ergeben im Ganzen einen Raum, dessen Größe unbestimmt bleibt. Maryna möchte die Fragilität ihrer Kunst zum Verschwinden bringen. Man soll eine Platte sehen, wo eine Leinwand ist.
Maryna erkundet Räume. Sie unternimmt Expeditionen und beobachtet die Folgen künstlerischer Interventionen in überladenen Zusammenhängen. Sie bringt ihre Ladungen an monumentalen Okkupationen gemeinsam mit Jörg Mollet an. Eine Erkundung führte sie nach Vogelsang. Da fand Maryna Räume, in denen sie sich so fühlt, als sei sie in ihnen geboren.
Wieder spricht Maryna
Es ist die Stille in einer modellhaften Nachbildung sowjetischen Siedlungsbaus auf deutschem Boden. Das ist keine sowjetische Siedlung. Sondern eine vom Original nicht zu unterscheidende Kopie. Alles ist echt und gewiss nicht kulissenhaft. Und doch stimmt etwas nicht in der Anlage. Die weitreichende Abwesenheit von Leuten auf einem verlassenen Schauplatz der Verwaltungskonzentration einer Besatzungsmacht evoziert auf der Bühne meines inneren Theaters graue/grauenhafte Massenszenen wie bei Aufmärschen. Die Szenen verlieren ihre Dreidimensionalität. In ihrer Verflachung werden sie zu einer Schicht, in der Schichten komprimiert sind.
Ich zähle Schichten. Das ist mein Beruf.
Verfall offenbart Schichten. Er zeigt Zeit an. Der aufgegebene Machtkomplex in Vogelsang beschreibt in seinen ruinösen Prozessen eine Idylle nur für mich. Zugleich erzählt er das schwarze 20. Jahrhundert. Ich denke das 20. Jahrhundert als einen Güterzug voller Soldaten. Sie entbehren, was Deportierte entbehren, dürfen aber rauchen.
Meine Malerei entsteht eruptiv im Körper. Manchmal geht eine Leinwand in dem Kraftakt kaputt und ich freue mich über das Loch. Ich verbinde Stoffe, die sich kaum verbinden und so unvorhersehbare Schichten ergeben. Die Ölfarbe frisst sich durch die Bilder, sie frisst meine Malerei und hinterlässt auf ihrem Vernichtungszug die schönste Verheerung.
Die Farbe ist noch rabiater als ich. Das gefällt mir.
Über Kollaborationen
Die künstlerische Zusammenarbeit schafft eine Zusatzidentität. Sie vergrößert meine Potenz. Zugleich höre ich auf, heroisch zu sein. Ich führe eine künstlerische Ehe mit Jörg. Er ist ein Werkzeug meiner Psyche; so etwas wie eine Sonde. Er meint alles so ernst wie ich es meine und lässt sich nichts durchgehen. Deshalb gelingt es uns manchmal gemeinsam, unsichtbar zu werden, während wir einen Raum besetzen; ihn einnehmen mit Fotos, die hängenbleiben in der Ungewissheit, wie andere sie ihren Bedürfnissen unterwerfen.
…
Ich suche den Algorithmus des Gedächtnisses.
Auch das Gedächtnis begreift Maryna als Architektur. Sie fusioniert mit Jörg in einer Aufgabe der Künstlerinnenautonomie. Der Preisgabe des höchsten Grad ihrer Originalität haftet nichts Selbstverständliches an. Trotzdem erscheint die Maßnahme Maryna natürlich. So wie sie Farben gegen ihre Bilder arbeiten lässt, arbeitet sie gegen sich selbst mit vereinten Kräften. Sie signiert nur noch auf Wunsch.
Wird fortgesetzt.