Welcher war dein erster Kontakt mit der deutschen Literatur?
Um darauf zu antworten, muss ich ein wenig ausholen. Vielleicht versteht man dann die Zusammenhänge besser. Ich kam ja im Jahr 2000 nach Deutschland – cu Atlassib-ul. Da war ich gerade 13 Jahre alt. Ich kam mit einem zweimonatigen Visum hierher, aber allen Beteiligten – dem in Alba Iulia gebliebenen Vater, der mich zum Bus nach Sebeș brachte, von wo ich alleine reisen würde; der in Aschaffenburg in zweiter Ehe mit einem Rumäniendeutschen lebenden Mutter, die auf mich wartete; den rumänischen Kindheitsfreunden, die ich zurückließ; etc. … – war im Grunde klar, dass es für mich kein dauerhaftes Zurück mehr geben würde.
Ich wechselte den Boden unter den Füßen zu einem – aus mehreren Gründen – denkbar ungünstigen Zeitpunkt. In der Schule wurde ich zum Beispiel immer besser, hatte in Alba Iulia gerade die sechste Klasse mit dem drittbesten Notendurchschnitt (9,83) beendet – und nun sollte ich, vor allem was die Sprache angeht, von vorn beginnen?! Ich bin ja kein Rumäniendeutscher – meine Mutter din Ardeal; mein Vater der ungarischen Minderheit in Rumänien angehörend –, und die Fremdsprachen in der Schule waren Französisch und Englisch.
Meine erste deutsche Schule: die Kolpingschule in Aschaffenburg, damals eine sogenannte Volksschule, wenn ich mich richtig erinnere. Viele Migrantenkinder, und ich einer von ihnen. Um Deutsch effektiver zu lernen, schrieb der Stundenplan keinen Fremdsprachenunterricht vor. Gut gemeint, würde ich sagen, aber daraus ergibt sich der Nachteil, dass die anderen Fremdsprachen außer Gebrauch geraten. Das Positive: Ich traf auf einen Lehrer, den ich sehr zu schätzen begann: auf Herrn Hammer. Zum Deutschunterricht gehörte natürlich auch das Auswendiglernen und Vortragen von Gedichten. Es gibt wohl ein Video, das inzwischen auf irgendeiner Platte liegt oder schon gelöscht wurde, in dem man mich mit starkem Akzent ein Gedicht über die Schlacht von Waterloo vortragen sieht und hört, eine Übersetzung, wobei ich mich nicht mehr an den Autor des Gedichts erinnern kann. Es gibt ja viele, die Waterloo besungen haben.
Obwohl gerade mal 13 – wusste ich, dass der Abschluss der Volksschule nicht das Ziel sein kann. Ich wollte aufs Gymnasium und schaffte es schließlich im Dessauer-Gymnasium in Aschaffenburg weiter zu machen, mit der Bedingung, die siebte Klasse zu wiederholen. Von dort aus – ich verließ das Dessauer-Gymnasium mit einem furchtbaren Notendurchschnitt – ging es nach Bad Sooden-Allendorf ins Gymnasium der Rhenanus-Schule, die mich insofern verschonte, als ich im Deutschunterricht erst ab der 11. Klasse benotet wurde. Auch hier war der Lieblingslehrer ein Deutschlehrer: Herr Hermann. Er war es, der mir zum Beispiel Alexander Kluges, Ein Liebesversuch zu lesen gab, und der mich ermunterte, das Germanistikstudium aufzunehmen.
Im Studium war es schließlich mein Komparatistiklehrer, Herr Hamacher, der mir zu einem Orientierungs-, Impuls- und Lektürehinweisgeber wurde, und erst an dieser Stelle kann ich die Frage wirklich beantworten: Mein erster ernsthafter Kontakt mit deutscher Literatur war Paul Celan. Ihn zu lesen, begann ich ab 2008. Da war ich aber gerade acht Jahre alt, wenn man in Deutschjahren rechnet. Erst in diesem Jahr erreiche ich in diesem Sinne Volljährigkeit.
Und mir fällt auf: Es kann kein Zufall sein, dass es ausgerechnet drei H-Souffleusen gewesen sind, die mir anfänglich, mit Johann Georg Hamann sprechend, Literatur eingehaucht haben: Hammer, Hermann, Hamacher … Nach diesen Männern sind es fast ausschließlich Frauen gewesen, die als Hochschullehrerinnen mein Studium der Literatur beeinflusst haben.
Wann hast du deinen ersten deutschen Text geschrieben? Wie erfolgte der Übergang von der Muttersprache zu der deutschen Sprache?
Zuerst vielleicht das: Meine ersten rumänischen Gedichte habe ich mit acht oder neun geschrieben. Eines der ersten war ein Widmungsgedicht an den Vater oder die Mutter, ich weiß es nicht mehr, was auch daran liegen mag, dass ich nur wenige Stunden nach Aufschrift das Geschlecht der Pronomen im Gedicht gewechselt hatte, um es auch dem anderen Elternteil widmen und zeigen zu können. Jahrzehnte später sagt mir dieser Schreibanfang einiges über die „Machbarkeit“ und die „Machenschaften“ von Literatur …
Aber die ersten ernsthafteren literarischen Versuche in deutscher Sprache dürften um das Jahr 2009 erfolgt sein, also kurz nach Beginn des Studiums. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Text, in dem ich Hemden mit Schulterklappen ein literarisches Denkmal setzen wollte, was natürlich gründlich in die Hose gegangen ist und mir furchtbar peinlich ist im Nachhinein. Ich erkläre hiermit die Teilfrage für beendet (lacht).
Und zum anderen Teil der Frage: Wenn eine recht spät erlernte Fremdsprache zu einer persönlichen und ja auch beruflichen Angelegenheit wird – zumindest ist es bei mir bis heute noch der Fall –, merkt man sehr schnell, woran es hapert: Lesungen und Moderationen fallen mir zum Beispiel, obwohl ich sie gern mache, besonders schwer, weil das Lampenfieber und die Aufregung zu Problemen mit der Aussprache führen. Da kann es schon einmal vorkommen, dass man im Eifer des Gefechts am Unterschied zwischen langen und kurzen Vokalen verzweifelt. Auch die deutschen Redewendungen bereiten mir Schwierigkeiten. Hie und da würde ich gerne schlagfertig mit einer Redewendung antworten, aber von nichts kommt nichts: In der Zeit, wo ich ein Gespür für sie entwickelt hätte, konnte ich nicht ahnen, dass ich irgendwann in Deutschland leben und auf Deutsch schreiben würde. Und dann die deutschen Artikel: der, die, das. Am Anfang war es furchtbar, ich habe alles durcheinandergebracht, aber mir fiel auf, dass, sobald ich nur noch in Diminutiven rede, zwei von drei Artikeln wegfallen und nur noch „das“ übrigbleibt. Also habe ich eine Zeitlang nur noch in Diminutiven geredet, mit dem Suffix -chen natürlich, bei dem Suffix -lein war ich noch nicht. Vielleicht war ich zu dem Zeitpunkt eine Figur in einem OULIPO-Roman in einer Welt en miniature: „Im Kneipchen trank er zu viel Bierchen. Einmal draußen – fiel er hin und brach sich das Rippchen.“ Literatur kann eine Skalierungsfrage sein …
Aber auch der unglaubliche Stilist E. M. Cioran, der aus dem Rumänischen ins Französischen hinüberwechselte, musste sein Précis de décomposition viermal schreiben, nachdem ihm ein Freund nach dem ersten Versuch anriet, von vorn zu beginnen, weil das nichts sei: „Ich war wütend, aber es führte auch dazu, dass ich anfing, die Sache ernst zu nehmen. Und ich stürzte mich in die französische Sprache wie ein Wahnsinniger, umgeben von Wörterbüchern und allem Drum und Dran. Ich habe enorm viel daran gearbeitet. Ich habe das erste Buch viermal geschrieben.“
Sich zu diesem cioranesken Wahnsinn zu bekennen, heißt vielleicht, die Muttersprache abzulegen wie eine Staatsbürgerschaft, um sich, wie in meinem Fall, in der Stiefvatersprache entsprechend bewegen zu können. Wobei ich nicht glaube, dass eine solche Entsprechung bei einem Migranten dazu führen kann, Deutsch irgendwann als etwas Selbstverständliches zu betrachten – wie es die meisten Muttersprachler tun.
Was hast du von Rumänien behalten, was hat dich in Rumänien besonders geprägt?
Eine goetheske, fast groteske Frage nach den dortigen Lehr- und Bildungsjahren. Ich kann nichts Bestimmtes hervorheben. Und gleichzeitig muss ich an einen Satz aus Beckett denken: “The man with a good memory does not remember anything because he does not forget anything.” In meinem Debütband Aus sein auf uns habe ich versucht, zu vergessen, und lasse an einer Stelle Auguste Deter, die erste Alzheimer-Patientin, ihre berühmten Worte wiederholen: „Ich habe mich sozusagen verloren.“ Vergessen, um sich in einer günstigen Stunde besser zu erinnern – das war meine Devise.
Aber eine Sache will ich doch nennen: die paar unbeschreiblich glücklichen, weil irgendwie magischen Kindheitstage, die ich bei meiner Urgroßmutter, die kürzlich mit 101 gestorben ist, verbracht habe. Sie wohnte abgelegen pe Valea Gârzii, la Crişcior, lânga Brad, în Hunedoara. Selbst Google Earth hält es für vernachlässigbar, die Valea Gârzii entlang zu fahren und sie sich zu erschließen. Ein unglaublich einfaches, ja fast primitives und deshalb glückliches Leben wird dort geführt. Thomas Bernhard kannte die Erfahrung: „Eins ist sicher: ich habe nie schreiben wollen! Ich beneide jeden, der neben mir – in unwiederbringlicher Ruhe – Schuhe macht, oder Käse glatt stampft. Aber, ich kann nicht mehr zu den Schuhen zurück. Die teuflischen Verse werden mich vernichten!“
Im Rahmen der Leipziger Buchmesse 2018 hast du zusammen mit Dana Grigorcea die Veranstaltung „Genug geredet, jetzt wird erzählt. Neue Literatur aus Rumänien” moderiert. Welcher ist deiner Ansicht nach der größte Vorzug der jüngeren Schriftstellergeneration aus Rumänien?
Es gibt eine Fotografie, die Cioran, Ionesco und Eliade 1986 bei einem Treffen in Paris zeigt. Ich empfinde sie als Sinnbild der Literatur, sagen wir, jener rumänischer Schriftsteller, die älter sind als 50-55. Ich möchte es so knapp wie möglich formulieren: Cioran ist für seinen Pessimismus bekannt geworden, Ionesco für seine Absurdität und Eliade für seine Remythologisierungs- und Respiritualisierungstendenzen – also irgendwie ein Anti-Bultmann, der bekanntlich ein Programm der Entmythologisierung verfolgte. Die Literatur der jüngeren Schriftstellergeneration scheint mir dagegen engagierter (Schlagwort „#rezist“), pathosärmer, realistischer, aufklärerischer, bultmannesker …
Welche sind die aktuellen Tendenzen in der deutschen Gegenwartsliteratur, wodurch unterscheidet sich die Literatur aus Deutschland von der aus Rumänien?
Ich bin skeptisch, ob es zwischen diesen beiden literarischen Feldern noch wesentliche Unterschiede gibt. Ich glaube nämlich, eher nicht. Weder in der Produktion noch in der Rezeption von Literatur. Auch hier will ich es kurz machen: Inwiefern sollen sich die Erfahrungen der Rumänen von denen der Deutschen noch unterscheiden – und umgekehrt? Es gibt einen europäischen Lebensstandardvergleich, eine Annäherung auf allen Ebenen, ob gesellschaftlich, sozial, wirtschaftlich, politisch oder kulturell. Man ist überall so gut wie nie zuvor miteinander vernetzt und reist spontan und flugs von A nach B, selbst wenn dazwischen Tausende von Kilometern liegen. Man verwendet dieselben sozialen Netzwerke, man debattiert über dieselben Themen – und die Aufzählung ließe sich wahrscheinlich nach Belieben fortsetzen … Der Mittelbau der Schriftsteller organisiert sich selbst, hält zusammen, hier wie dort. Man kennt sich. Man zieht in die Stadt, wenn man vom Lande kommt, aber publizieren möchte. Wenige können von ihrem Schreiben leben, die wenigsten genießen einen weltweiten Ruhm. Einige werden von den Institutionen, in denen sie selbst arbeiten, an die Öffentlichkeit vermittelt. Und all das muss nicht schlecht sein – und nicht gut. Ob es in Deutschland und in Rumänien noch welche gibt, die in der Tradition der Bukolik stehen? Gut möglich …
Du kuratierst die rumänischen Seiten der Lichtungen Zeitschrift 2018. Wie hast du den Kontakt zur rumänischen Literatur beibehalten?
Vor etwa acht Jahren las ich, dass Celan Kapitelteile aus Alexandru Vonas Ferestrele zidite übersetzt hat, in der Absicht, das Romanmanuskript bei einem deutschen Verlag unterzubringen. Erst viel später, 1997, konnte der fünf Jahrzehnte zuvor entstandene Roman auch in deutscher Fassung (Die vermauerten Fenster) erscheinen, und zwar in der ausgezeichneten Übersetzung von Georg Aescht. Dass es auf Deutsch nichts anderes von Vona gab, war für mich schließlich der Anlass, 2014 unter dem Titel Vitralii die bis 1947 verstreut erschienenen Texte von Vona zu übersetzen und herauszugeben. Und ich merkte, wie ich mich bei der Recherche nach diesen Texten immer weiter in der Geschichte der Revista Fundaţiilor Regale (1934-1947) vertiefte, in der sich die meisten Texte von Vona befanden. Über „Caiet de poezie I und II“ (1946 und 1947), die Supplemente der RFR, gelangte ich schließlich zur Zeitschrift „Agora“, die von Ion Caraion und Virgil Ierunca herausgegeben wurde, deren einzige Nummer 1947 erschien. Und siehe da, zu den Autoren gehörte nicht nur Vona, sondern auch Celan. Der Kontakt mit Celan führte mich also zum Kontakt mit der rumänischen Literatur, die mich interessierte.
Darauf folgten einige Übersetzungen für die Zeitschrift Sinn und Form: Mit Marcus Roloff durfte ich dafür Gedichte von Ana Blandiana und Marius Daniel Popescu übersetzen. Und seitdem trudeln hie und da Übersetzungsaufträge ein, wie zuletzt von Thomas Geiger für die Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter – und nun Lichtungen, worauf ich mich sehr freue, zumal ich zehn Lyriker/innen mit jeweils zehn Gedichten vorstellen möchte.
Das Ziel wäre, nicht mehr übersetzen zu müssen: Agora war ein babylonisches Projekt in Bukarest: Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch, Rumänisch und weitere Sprachen koexistierten auf engstem Raum …
Um darauf zu antworten, muss ich ein wenig ausholen. Vielleicht versteht man dann die Zusammenhänge besser. Ich kam ja im Jahr 2000 nach Deutschland – cu Atlassib-ul. Da war ich gerade 13 Jahre alt. Ich kam mit einem zweimonatigen Visum hierher, aber allen Beteiligten – dem in Alba Iulia gebliebenen Vater, der mich zum Bus nach Sebeș brachte, von wo ich alleine reisen würde; der in Aschaffenburg in zweiter Ehe mit einem Rumäniendeutschen lebenden Mutter, die auf mich wartete; den rumänischen Kindheitsfreunden, die ich zurückließ; etc. … – war im Grunde klar, dass es für mich kein dauerhaftes Zurück mehr geben würde.
Ich wechselte den Boden unter den Füßen zu einem – aus mehreren Gründen – denkbar ungünstigen Zeitpunkt. In der Schule wurde ich zum Beispiel immer besser, hatte in Alba Iulia gerade die sechste Klasse mit dem drittbesten Notendurchschnitt (9,83) beendet – und nun sollte ich, vor allem was die Sprache angeht, von vorn beginnen?! Ich bin ja kein Rumäniendeutscher – meine Mutter din Ardeal; mein Vater der ungarischen Minderheit in Rumänien angehörend –, und die Fremdsprachen in der Schule waren Französisch und Englisch.
Meine erste deutsche Schule: die Kolpingschule in Aschaffenburg, damals eine sogenannte Volksschule, wenn ich mich richtig erinnere. Viele Migrantenkinder, und ich einer von ihnen. Um Deutsch effektiver zu lernen, schrieb der Stundenplan keinen Fremdsprachenunterricht vor. Gut gemeint, würde ich sagen, aber daraus ergibt sich der Nachteil, dass die anderen Fremdsprachen außer Gebrauch geraten. Das Positive: Ich traf auf einen Lehrer, den ich sehr zu schätzen begann: auf Herrn Hammer. Zum Deutschunterricht gehörte natürlich auch das Auswendiglernen und Vortragen von Gedichten. Es gibt wohl ein Video, das inzwischen auf irgendeiner Platte liegt oder schon gelöscht wurde, in dem man mich mit starkem Akzent ein Gedicht über die Schlacht von Waterloo vortragen sieht und hört, eine Übersetzung, wobei ich mich nicht mehr an den Autor des Gedichts erinnern kann. Es gibt ja viele, die Waterloo besungen haben.
Obwohl gerade mal 13 – wusste ich, dass der Abschluss der Volksschule nicht das Ziel sein kann. Ich wollte aufs Gymnasium und schaffte es schließlich im Dessauer-Gymnasium in Aschaffenburg weiter zu machen, mit der Bedingung, die siebte Klasse zu wiederholen. Von dort aus – ich verließ das Dessauer-Gymnasium mit einem furchtbaren Notendurchschnitt – ging es nach Bad Sooden-Allendorf ins Gymnasium der Rhenanus-Schule, die mich insofern verschonte, als ich im Deutschunterricht erst ab der 11. Klasse benotet wurde. Auch hier war der Lieblingslehrer ein Deutschlehrer: Herr Hermann. Er war es, der mir zum Beispiel Alexander Kluges, Ein Liebesversuch zu lesen gab, und der mich ermunterte, das Germanistikstudium aufzunehmen.
Im Studium war es schließlich mein Komparatistiklehrer, Herr Hamacher, der mir zu einem Orientierungs-, Impuls- und Lektürehinweisgeber wurde, und erst an dieser Stelle kann ich die Frage wirklich beantworten: Mein erster ernsthafter Kontakt mit deutscher Literatur war Paul Celan. Ihn zu lesen, begann ich ab 2008. Da war ich aber gerade acht Jahre alt, wenn man in Deutschjahren rechnet. Erst in diesem Jahr erreiche ich in diesem Sinne Volljährigkeit.
Und mir fällt auf: Es kann kein Zufall sein, dass es ausgerechnet drei H-Souffleusen gewesen sind, die mir anfänglich, mit Johann Georg Hamann sprechend, Literatur eingehaucht haben: Hammer, Hermann, Hamacher … Nach diesen Männern sind es fast ausschließlich Frauen gewesen, die als Hochschullehrerinnen mein Studium der Literatur beeinflusst haben.
Wann hast du deinen ersten deutschen Text geschrieben? Wie erfolgte der Übergang von der Muttersprache zu der deutschen Sprache?
Zuerst vielleicht das: Meine ersten rumänischen Gedichte habe ich mit acht oder neun geschrieben. Eines der ersten war ein Widmungsgedicht an den Vater oder die Mutter, ich weiß es nicht mehr, was auch daran liegen mag, dass ich nur wenige Stunden nach Aufschrift das Geschlecht der Pronomen im Gedicht gewechselt hatte, um es auch dem anderen Elternteil widmen und zeigen zu können. Jahrzehnte später sagt mir dieser Schreibanfang einiges über die „Machbarkeit“ und die „Machenschaften“ von Literatur …
Aber die ersten ernsthafteren literarischen Versuche in deutscher Sprache dürften um das Jahr 2009 erfolgt sein, also kurz nach Beginn des Studiums. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Text, in dem ich Hemden mit Schulterklappen ein literarisches Denkmal setzen wollte, was natürlich gründlich in die Hose gegangen ist und mir furchtbar peinlich ist im Nachhinein. Ich erkläre hiermit die Teilfrage für beendet (lacht).
Und zum anderen Teil der Frage: Wenn eine recht spät erlernte Fremdsprache zu einer persönlichen und ja auch beruflichen Angelegenheit wird – zumindest ist es bei mir bis heute noch der Fall –, merkt man sehr schnell, woran es hapert: Lesungen und Moderationen fallen mir zum Beispiel, obwohl ich sie gern mache, besonders schwer, weil das Lampenfieber und die Aufregung zu Problemen mit der Aussprache führen. Da kann es schon einmal vorkommen, dass man im Eifer des Gefechts am Unterschied zwischen langen und kurzen Vokalen verzweifelt. Auch die deutschen Redewendungen bereiten mir Schwierigkeiten. Hie und da würde ich gerne schlagfertig mit einer Redewendung antworten, aber von nichts kommt nichts: In der Zeit, wo ich ein Gespür für sie entwickelt hätte, konnte ich nicht ahnen, dass ich irgendwann in Deutschland leben und auf Deutsch schreiben würde. Und dann die deutschen Artikel: der, die, das. Am Anfang war es furchtbar, ich habe alles durcheinandergebracht, aber mir fiel auf, dass, sobald ich nur noch in Diminutiven rede, zwei von drei Artikeln wegfallen und nur noch „das“ übrigbleibt. Also habe ich eine Zeitlang nur noch in Diminutiven geredet, mit dem Suffix -chen natürlich, bei dem Suffix -lein war ich noch nicht. Vielleicht war ich zu dem Zeitpunkt eine Figur in einem OULIPO-Roman in einer Welt en miniature: „Im Kneipchen trank er zu viel Bierchen. Einmal draußen – fiel er hin und brach sich das Rippchen.“ Literatur kann eine Skalierungsfrage sein …
Aber auch der unglaubliche Stilist E. M. Cioran, der aus dem Rumänischen ins Französischen hinüberwechselte, musste sein Précis de décomposition viermal schreiben, nachdem ihm ein Freund nach dem ersten Versuch anriet, von vorn zu beginnen, weil das nichts sei: „Ich war wütend, aber es führte auch dazu, dass ich anfing, die Sache ernst zu nehmen. Und ich stürzte mich in die französische Sprache wie ein Wahnsinniger, umgeben von Wörterbüchern und allem Drum und Dran. Ich habe enorm viel daran gearbeitet. Ich habe das erste Buch viermal geschrieben.“
Sich zu diesem cioranesken Wahnsinn zu bekennen, heißt vielleicht, die Muttersprache abzulegen wie eine Staatsbürgerschaft, um sich, wie in meinem Fall, in der Stiefvatersprache entsprechend bewegen zu können. Wobei ich nicht glaube, dass eine solche Entsprechung bei einem Migranten dazu führen kann, Deutsch irgendwann als etwas Selbstverständliches zu betrachten – wie es die meisten Muttersprachler tun.
Was hast du von Rumänien behalten, was hat dich in Rumänien besonders geprägt?
Eine goetheske, fast groteske Frage nach den dortigen Lehr- und Bildungsjahren. Ich kann nichts Bestimmtes hervorheben. Und gleichzeitig muss ich an einen Satz aus Beckett denken: “The man with a good memory does not remember anything because he does not forget anything.” In meinem Debütband Aus sein auf uns habe ich versucht, zu vergessen, und lasse an einer Stelle Auguste Deter, die erste Alzheimer-Patientin, ihre berühmten Worte wiederholen: „Ich habe mich sozusagen verloren.“ Vergessen, um sich in einer günstigen Stunde besser zu erinnern – das war meine Devise.
Aber eine Sache will ich doch nennen: die paar unbeschreiblich glücklichen, weil irgendwie magischen Kindheitstage, die ich bei meiner Urgroßmutter, die kürzlich mit 101 gestorben ist, verbracht habe. Sie wohnte abgelegen pe Valea Gârzii, la Crişcior, lânga Brad, în Hunedoara. Selbst Google Earth hält es für vernachlässigbar, die Valea Gârzii entlang zu fahren und sie sich zu erschließen. Ein unglaublich einfaches, ja fast primitives und deshalb glückliches Leben wird dort geführt. Thomas Bernhard kannte die Erfahrung: „Eins ist sicher: ich habe nie schreiben wollen! Ich beneide jeden, der neben mir – in unwiederbringlicher Ruhe – Schuhe macht, oder Käse glatt stampft. Aber, ich kann nicht mehr zu den Schuhen zurück. Die teuflischen Verse werden mich vernichten!“
Im Rahmen der Leipziger Buchmesse 2018 hast du zusammen mit Dana Grigorcea die Veranstaltung „Genug geredet, jetzt wird erzählt. Neue Literatur aus Rumänien” moderiert. Welcher ist deiner Ansicht nach der größte Vorzug der jüngeren Schriftstellergeneration aus Rumänien?
Es gibt eine Fotografie, die Cioran, Ionesco und Eliade 1986 bei einem Treffen in Paris zeigt. Ich empfinde sie als Sinnbild der Literatur, sagen wir, jener rumänischer Schriftsteller, die älter sind als 50-55. Ich möchte es so knapp wie möglich formulieren: Cioran ist für seinen Pessimismus bekannt geworden, Ionesco für seine Absurdität und Eliade für seine Remythologisierungs- und Respiritualisierungstendenzen – also irgendwie ein Anti-Bultmann, der bekanntlich ein Programm der Entmythologisierung verfolgte. Die Literatur der jüngeren Schriftstellergeneration scheint mir dagegen engagierter (Schlagwort „#rezist“), pathosärmer, realistischer, aufklärerischer, bultmannesker …
Welche sind die aktuellen Tendenzen in der deutschen Gegenwartsliteratur, wodurch unterscheidet sich die Literatur aus Deutschland von der aus Rumänien?
Ich bin skeptisch, ob es zwischen diesen beiden literarischen Feldern noch wesentliche Unterschiede gibt. Ich glaube nämlich, eher nicht. Weder in der Produktion noch in der Rezeption von Literatur. Auch hier will ich es kurz machen: Inwiefern sollen sich die Erfahrungen der Rumänen von denen der Deutschen noch unterscheiden – und umgekehrt? Es gibt einen europäischen Lebensstandardvergleich, eine Annäherung auf allen Ebenen, ob gesellschaftlich, sozial, wirtschaftlich, politisch oder kulturell. Man ist überall so gut wie nie zuvor miteinander vernetzt und reist spontan und flugs von A nach B, selbst wenn dazwischen Tausende von Kilometern liegen. Man verwendet dieselben sozialen Netzwerke, man debattiert über dieselben Themen – und die Aufzählung ließe sich wahrscheinlich nach Belieben fortsetzen … Der Mittelbau der Schriftsteller organisiert sich selbst, hält zusammen, hier wie dort. Man kennt sich. Man zieht in die Stadt, wenn man vom Lande kommt, aber publizieren möchte. Wenige können von ihrem Schreiben leben, die wenigsten genießen einen weltweiten Ruhm. Einige werden von den Institutionen, in denen sie selbst arbeiten, an die Öffentlichkeit vermittelt. Und all das muss nicht schlecht sein – und nicht gut. Ob es in Deutschland und in Rumänien noch welche gibt, die in der Tradition der Bukolik stehen? Gut möglich …
Du kuratierst die rumänischen Seiten der Lichtungen Zeitschrift 2018. Wie hast du den Kontakt zur rumänischen Literatur beibehalten?
Vor etwa acht Jahren las ich, dass Celan Kapitelteile aus Alexandru Vonas Ferestrele zidite übersetzt hat, in der Absicht, das Romanmanuskript bei einem deutschen Verlag unterzubringen. Erst viel später, 1997, konnte der fünf Jahrzehnte zuvor entstandene Roman auch in deutscher Fassung (Die vermauerten Fenster) erscheinen, und zwar in der ausgezeichneten Übersetzung von Georg Aescht. Dass es auf Deutsch nichts anderes von Vona gab, war für mich schließlich der Anlass, 2014 unter dem Titel Vitralii die bis 1947 verstreut erschienenen Texte von Vona zu übersetzen und herauszugeben. Und ich merkte, wie ich mich bei der Recherche nach diesen Texten immer weiter in der Geschichte der Revista Fundaţiilor Regale (1934-1947) vertiefte, in der sich die meisten Texte von Vona befanden. Über „Caiet de poezie I und II“ (1946 und 1947), die Supplemente der RFR, gelangte ich schließlich zur Zeitschrift „Agora“, die von Ion Caraion und Virgil Ierunca herausgegeben wurde, deren einzige Nummer 1947 erschien. Und siehe da, zu den Autoren gehörte nicht nur Vona, sondern auch Celan. Der Kontakt mit Celan führte mich also zum Kontakt mit der rumänischen Literatur, die mich interessierte.
Darauf folgten einige Übersetzungen für die Zeitschrift Sinn und Form: Mit Marcus Roloff durfte ich dafür Gedichte von Ana Blandiana und Marius Daniel Popescu übersetzen. Und seitdem trudeln hie und da Übersetzungsaufträge ein, wie zuletzt von Thomas Geiger für die Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter – und nun Lichtungen, worauf ich mich sehr freue, zumal ich zehn Lyriker/innen mit jeweils zehn Gedichten vorstellen möchte.
Das Ziel wäre, nicht mehr übersetzen zu müssen: Agora war ein babylonisches Projekt in Bukarest: Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch, Rumänisch und weitere Sprachen koexistierten auf engstem Raum …