Der Dandy als Delinquent im spätviktorianischen Diskurs
In den Registern der bürgerlichen Abwehr überzeugt Oscar Wilde als „arroganter Päderast“. 1895 wird ihm der Prozess gemacht. Der Richter schneidet Wilde das letzte Wort ab, nachdem er den Dandy als Delinquenten wegen „schwerer Immoralität“ zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt hat. Er bedauert, dass der gesetzliche Rahmen keine härtere Strafe erlaubt.
„Der Homosexuelle wird unter dem Blick der anderen zum Phantom.“
Didier Eribon erläutert die Zentralperspektive der Erwartungen, mit denen Wilde aus dem Verkehr gezogen wird. Man will ihn zum Verstummen bringen. Seine Stimme soll im öffentlichen Leben nicht mehr zu hören sein.
Eribon beschreibt den Prozess als regressiven Akt. Die geistig unterlegene Gesellschaft setzt ihre letzten Mittel ein, um einen Abweichenden zu isolieren, zu destabilisieren und zu delegitimieren.
Die Que(e)seite der Repression: Der spätviktorianische Diskurs presst die „Uranisten“ gegen ihren Willen in eine Partei, da sich „der ganze (zu Wildes Deklassierung) von der Presse herangekarrte Dreck … auch gegen sie“ richtet.
Didier Eribon, „Betrachtungen zur Schwulenfrage“, aus dem Französischen von Achim Russer und Bernd Schwibs, Suhrkamp, 622 Seiten, 38,-
Auch wenn der Tenor verächtlich ist, Homosexualität sorgt für einen Debattenhype. Der Prozess mutiert zum Schlüsselmoment „der Herausbildung eines individuellen und kollektiven Selbstbewusstseins jener, deren Existenz von den geraden Wegen der sexuellen Normalität“ abweicht.
Die Beleidigung konstituiert den Beleidigten. Sie rüstet ihn auf; jedenfalls unter der Voraussetzung, der er sich (stillschweigend) zu seiner Abweichung bekennt. Das mag nicht mehr sein als ein Gebet in der Kammer, doch verändert es gründlich die Spielanordnung. Der Ergriffene rechnet sich fortan zu einer heimlichen Reserve. Spricht man schlecht über Wilde, spricht man schlecht über ihn. Sieht er eine Möglichkeit zur Revanche, ergreift er sie im Namen aller (Beleidigten).
Wilde wird zum Symbol, Oscar zum Synonym für Homosexualität. André Gide zündet die nächste Stufe. Auf einer Folie der Wilde’schen Tragik präzisiert er seine Position. Gide erfasst ihre politische Dimension. Er äußert sich stellvertretend. Das Urteil seiner Gegenwart liest sich so:
„Wir behaupten sicher nicht, dass Gide, wäre er Wilde nicht begegnet, nicht homosexuell geworden wäre; aber es ist wahrscheinlich, dass er nicht so rasch innerlich die Haltung eines arroganten Päderasten angenommen hätte.“
Sexualität & Geheimnis
Obwohl der Geschlechtsverkehr keine öffentliche Angelegenheit darstellt, leben alle in der Allgegenwart heterosexueller Aspirationen. Es spielt keine Rolle, dass nicht jeder alle einschlägigen Zeichen lesen kann. Das Unbegreifliche fällt auf die gleiche Seite wie das Identifizierte. In jedem Fall gehört es zu einer Sexualität ohne Geheimnis. Didier Eribon nähert sich der verschwiegenen Praxis oft mit Prousts Baron Charlus als Garanten der guten Sitten. Begegnet Charlus jemand mit der unangenehmen Vertraulichkeit eines gottlos-geschwätzigen Kirchgängers, knickt der Vornehme stets ein, bevor ein Elender seine Messe der Peinlichkeit auf Charlus‘ Kosten fertiggelesen hat. Wäre ich Junggeselle, würde ich … sagt so einer.
„Sie verstehen es gewiss besser als ich, ein paar Matrosen anzuspitzen.“
Charlus reagiert allergisch auf Allusionen solcher Indezenz.
Eribon konstatiert merkwürdig: „So kann der Baron glauben, dass er nichts von seinem Laster verrät, während sein Geheimnis doch allen bekannt ist und ihn Sarkasmen … aussetzt.“
Charlus fühlt sich von seiner Diskretion geschützt. Eve Kosofsky Sedgwick spricht von einem „gläsernen Versteck“ und charakterisiert die Recherche im Ganzen als ein „Schauspiel des Verstecks“. Das Werk verhandelt die permanente Inferiorität, in der Charlus stellvertretend steckt.
Interessanterweise deutet Eribon Prousts literarisches Mammut nicht als Gegenhegemonialkraft. Prousts Potenz wirkt sich im heteronormativen Kontext aus. Die aus der Schmach des schwulen Kindes gewonnene „fast unerschöpfliche Quelle transformatorischer Energie“ stärkt das bürgerliche Lager.
Entsagungen und Stillschweigen
Charlus gelangt nicht zu der heilenden Kraft, die in ihm ihren Ursprung hat, aber ihren Weg so nimmt, dass sie den gesellschaftlichen Affront verstärkt. Charlus richtet seine Waffen gegen sich selbst. Er gleicht einem Objekt, das zu dem Zweck hergestellt wurde, sich in die Luft zu sprengen. Jede Anstrengung, die Sexualität mit dem Sozialen zu versöhnen, entfaltet negative Wirkungen auf einem Minenfeld der Injurien.
Jean Genet übertrifft alle Theoretiker, indem er das Wesentliche der isolierenden Scham auf den Punkt bringt:
„Nicht nur kommt keine Tradition dem P… zu Hilfe. Keine hinterlässt ihm ein System von Maßstäben … diese Natur wird empfunden als Anlass, sich schuldig zu fühlen.“
Es geht also darum, seine „persönliche Autonomie zurückzuerobern“, sie aus den Panzerschränken der Vernichter*innen herauszuholen und sie sich paradox wieder anzueignen, auch wenn man sie nie zuvor besessen hat.
Die größtmögliche Unterwerfung ist der Verzicht
Ein Schwuler mag auf den Wegen der Anpassung so weit gehen wie er nur kann, um Beleidigungen und Stigmatisierungen zu vermeiden: jedwedem damit verbundenen Gewinn schlägt ein deprimierender Selbstbestimmungsverlust entgegen.
Kapituliert man vor den herrschenden Normen nicht bereits, indem man die Homosexualität auf einer Folie „offensiver Virilität“ präsentiert, fragt Eribon rhetorisch.
Subjektivität und Privatleben
Man muss seine Vorstellungen von sich selbst zum Tragen bringen.
Eribon lehrt: Alle Kampagnen „sind Kämpfe um die Wahrnehmung der Welt“. Auf Twitter schalten sich die Legionen der traditionell Ungehörten ein. Die Heftigkeit der Auftritte kommt aus ungeschultem Durchsetzungswillen. Sie bewirkt eine Herabsetzung der Standards. Die Akteure überschätzen ihre Bedeutung, vor allen jedoch ihre Originalität als Dreckschleudern.
Sexualität & Geheimnis
Obwohl der Geschlechtsverkehr keine öffentliche Angelegenheit darstellt, leben alle in der Allgegenwart heterosexueller Aspirationen. Es spielt keine Rolle, dass nicht jeder alle einschlägigen Zeichen lesen kann. Das Unbegreifliche fällt auf die gleiche Seite wie das Identifizierte. In jedem Fall gehört es zu einer Sexualität ohne Geheimnis. Didier Eribon nähert sich der verschwiegenen Praxis oft mit Prousts Baron Charlus als Garanten der guten Sitten. Begegnet Charlus jemand mit der unangenehmen Vertraulichkeit eines gottlos-geschwätzigen Kirchgängers, knickt der Vornehme stets ein, bevor ein Elender seine Messe der Peinlichkeit auf Charlus‘ Kosten fertiggelesen hat. Wäre ich Junggeselle, würde ich … sagt so einer.
„Sie verstehen es gewiss besser als ich, ein paar Matrosen anzuspitzen.“
Charlus reagiert allergisch auf Allusionen solcher Indezenz.
Eribon konstatiert merkwürdig: „So kann der Baron glauben, dass er nichts von seinem Laster verrät, während sein Geheimnis doch allen bekannt ist und ihn Sarkasmen … aussetzt.“
Charlus fühlt sich von seiner Diskretion geschützt. Eve Kosofsky Sedgwick spricht von einem „gläsernen Versteck“ und charakterisiert die Recherche im Ganzen als ein „Schauspiel des Verstecks“. Das Werk verhandelt die permanente Inferiorität, in der Charlus stellvertretend steckt.
Didier Eribon, „Betrachtungen zur Schwulenfrage“, aus dem Französischen von Achim Russer und Bernd Schwibs, Suhrkamp, 622 Seiten, 38,-
Interessanterweise deutet Eribon Prousts literarisches Mammut nicht als Gegenhegemonialkraft. Prousts Potenz wirkt sich im heteronormativen Kontext aus. Die aus der Schmach des schwulen Kindes gewonnene „fast unerschöpfliche Quelle transformatorischer Energie“ stärkt das bürgerliche Lager.
Entsagungen und Stillschweigen
Charlus gelangt nicht zu der heilenden Kraft, die in ihm ihren Ursprung hat, aber ihren Weg so nimmt, dass sie den gesellschaftlichen Affront verstärkt. Charlus richtet seine Waffen gegen sich selbst. Er gleicht einem Objekt, das zu dem Zweck hergestellt wurde, sich in die Luft zu sprengen. Jede Anstrengung, die Sexualität mit dem Sozialen zu versöhnen, entfaltet negative Wirkungen auf einem Minenfeld der Injurien.
Jean Genet übertrifft alle Theoretiker, indem er das Wesentliche der isolierenden Scham auf den Punkt bringt:
„Nicht nur kommt keine Tradition dem P… zu Hilfe. Keine hinterlässt ihm ein System von Maßstäben … diese Natur wird empfunden als Anlass, sich schuldig zu fühlen.“
Es geht also darum, seine „persönliche Autonomie zurückzuerobern“, sie aus den Panzerschränken der Vernichter*innen herauszuholen und sie sich paradox wieder anzueignen, auch wenn man sie nie zuvor besessen hat.
Die größtmögliche Unterwerfung ist der Verzicht
Ein Schwuler mag auf den Wegen der Anpassung so weit gehen wie er nur kann, um Beleidigungen und Stigmatisierungen zu vermeiden: jedwedem damit verbundenen Gewinn schlägt ein deprimierender Selbstbestimmungsverlust entgegen.
Kapituliert man vor den herrschenden Normen nicht bereits, indem man die Homosexualität auf einer Folie „offensiver Virilität“ präsentiert, fragt Eribon rhetorisch.
Subjektivität und Privatleben
Man muss seine Vorstellungen von sich selbst zum Tragen bringen.
Eribon lehrt: Alle Kampagnen „sind Kämpfe um die Wahrnehmung der Welt“. Auf Twitter schalten sich die Legionen der traditionell Ungehörten ein. Die Heftigkeit der Auftritte kommt aus ungeschultem Durchsetzungswillen. Sie bewirkt eine Herabsetzung der Standards. Die Akteure überschätzen ihre Bedeutung, vor allen jedoch ihre Originalität als Dreckschleudern.
Didier Eribon schreibt: „Schwule und Lesben sind zur Stadt verurteilt.“
Der Soziologe untersucht die urbane Melancholie der Familienlosigkeit im historischen Kontext der Homosexualität und entdeckt einen narrativen Niederschlag in Honoré de Balzacs „Vetter Pons“, diesem „queer cousin“ (Michael Lucey). Pons wird von seinen Angehörigen verachtet. Sie sehen in ihm „einen Parasiten“ und halten sich mit Beleidigungen schadlos. Pons lebt persönlich bescheiden in Wohngemeinschaft mit dem deutschen Musiker Schmucke, den er zu seinem Erben bestimmt.
Das ist die Schlüsselkonstellation. In ihr offenbart sich der Charakter einer Beziehung, die keine Aussicht auf Anerkennung hat.
Lucey und Eribon deuten Balzac als Lieferanten von Analysewerkzeugen. Sie interessieren sich besonders für die Gruppe der Repräsentanten nicht-hegemonialer Subkulturen. Pons und Schmucke verteidigen in ihrer Allianz die unhaltbare Position des homosexuellen Paars im 19. Jahrhundert.
Sein Geld steckt Pons in eine Kunstsammlung, die für sich genommen ein Kunstwerk der trefflichen Intuition darstellt. Mit geringen Mitteln legt er den Grundstein eines Vermögens. Im Weiteren bringt er die eher ferne Verwandtschaft so lange an familiären Mittagstischen gegen sich auf, bis er auf den Tod erkrankt. Nun sickert der Wert durch, den die Sammlung des Siechen hat. Ein Aneignungsfeldzug beginnt.
Eribon markiert die Concierge in Pons Haus als Inhaberin der Schlüsselstellung in einem Aufgalopp der Gier. Sie weiß: Paare wie Pons/Schmucke hatten zu Balzacs Zeiten keine Erben im Sinn einer selbstbestimmten Weitergabe. Sie existierten außerhalb der Filiation, ihre Enteignung vollzieht sich im Text wie von selbst in eruptiven Wiederherstellungsakten der heterosexuellen Ordnung. Die Reihen schließen sich vor den Außenseitern. „Der verstorbene ‚Abweichler‘ wird postum zurückgeholt, während man Schmucke „durch radikalen Ausschluss … ins Elend und in den Tod“ treibt. Die Schmach der Kindheit hat ihn eingeholt.
Aus einem Gefühl der Schmach
Ein Gefühl der Schmach produziert die „fast unerschöpfliche Quelle transformatorischer Energie“. Die Schmach kommt aus der kindlichen Einsicht, im Normalitätscluster nicht zu begehren. Sie verbindet sich mit einer „affektiven Dissonanz“ in der Familie. Das schwule Kind kapselt sich ab. Sein Schweigen birgt das Geheimnis des Andersseins. Daher die Verschränkungen mit der Migration. Kombinationen von sexueller und ethnischer Differenz werden fortan und fortlaufend intersektional beschrieben.
Vom Paria zum Kulturproduzenten – Agenten der exklusiven Andersartigkeit separieren sich auf einem Hochplateau der Künstlerschaft
Eribon legt das Schema auf eine Vorzeichnung der „Verlorenen Zeit“. In seiner Skizze spannt sich ein Agent der exklusiven Andersartigkeit von den Brüdern und Freunden ab und destilliert sich zur „paradigmatischen Figur“. Für sich überschreitet „der Junge“ die Brücke vom Ausgegrenzten zum Singulären. Selbstverständlich wird er einen „künstlerischen Beruf“ ergreifen. Eribon spricht von „Flucht“ in die Kunst vor „heterosexuellen Vorhaltungen“.
Die Stadt ist das eine, die Kunst das andere (Refugium nicht heteronormativer Sexualität).
Der Künstler als Junge, wie Proust ihn sieht, distanziert sich mit dem Treibstoff Scham. Das Begehren weist die Richtung. Der Junge bewegt sich über Schamhürden und landet in der Proust’schen Diktion in einem metaphorischen „Marathon und Salamis“. An der Stelle ende ich vorläufig mit einem Hinweis, dass im Augenblick die Kommentarspalten überlaufen von martialischen Zitaten. Am liebsten falsch versteht der Hohlblockspartaner Schillers Vers:
„Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest / Uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.“
Wie man sich der Sache anzunehmen hat, steht hier.
Bürgerliche Abwehr
Balzac schildert in „Vetter Pons“ abweichendes Verhalten einigermaßen offen als geschlossenen Vollzug einer Existenzform. Dem gegenüber steht die Topografie des gespaltenen Daseins. Im Doppelleben müssen zwei Ausführungen „gegeneinander abgedichtet“ werden. Als staatstragende Persönlichkeit äußert man sich abfällig über eine „verrufene“ Bar, in der man zu einer anderen Stunde als Stammgast angesprochen wird.
Gide sieht sich kompromittiert, da der soeben aus dem Gefängnis entlassene, zutiefst deklassierte Wilde ihn auf einem der Pariser Boulevards nicht nur anruft, sondern auch die Absicht erkennen lässt, den Ehrenwerten zum Gewährsmann seiner derangierten Nobilität zu machen. Er wählt die herausfordernde Formulierung:
„Wenn ich seinerzeit Verlaine begegnete, schämte ich mich seiner auch nicht.“
Das ewige Abseits, das den Außenseiter ausmacht, bedarf nicht zwingend einer äußerlichen Entsprechung. Sobald das Stigma verinnerlicht wird, erteilt sich der Stigmatisierte die Befehle der bürgerlichen Abwehr selbst. Er separiert sich ohne Anlass. Auf dem höchsten gesellschaftlichen Niveau, da wo man solche Vergröberungen gar nicht mehr für möglich hält, exemplifiziert Proust das schwule Stigma an vielen Stellen der „Recherche“ und so auch da, wo er Monsieur de Charlus in die Not bringt, sich mit Vaugoubert zeigen zu müssen.
Proust beschreibt Vaugouberts Auftritt mit durchbrechender Abscheu. Wie der Akteur junge Männer abspannt und Männernamen aufdringlich in die weibliche Form setzt. Gleichzeitig bedenkt er seinen Ruf als ein Mann des diplomatischen Dienstes, der sich im Grunde schon von allen Aufgaben entbunden weiß, da der Minister „anscheinend selbst so eine ist“ und folglich der Bigotterie vollkommen ergeben zur Verfügung steht.
Matrix der Moderne
Didier Eribon führt Marcel Proust als Soziologen ein. Der Kollege klassifiziert den Klassiker als Theoretiker des sexuellen Einzelgängertums sowie als schwulen Snob, der seine Exzellenz auch an den eigenen Neigungen erkennt.
Proust zieht sich hinter Kork zurück und lässt sich berichten. Auf Paris reagiert er wie die Leute heute auf Twitter reagieren. Er ist ein Junkie der Statusmeldungen und Kommentarspaltenexzesse. Sein Nachrichtendienst besteht aus Chauffeuren und anderen Subalternen. Proust lässt sich von den Matadoren der Dienstbotenportale informieren.
Eribon nutzt Prousts strahlende Boulevardanzeiger, um ein homosexuelles Phänomen einzuleuchten.
Während „die Hüter der sozialen und moralischen Ordnung die Entwicklung der Städte als einen Faktor der Desorganisation und des Strukturverlusts“ deuten, stellt sie „für Schwule den Ort … einer sozialen Reorganisation … dar“.
Die sonst wo stigmatisierte Sexualität avanciert zum Exklusivitätsmerkmal. Eribon widerspricht negativen Interpretationen dieses Vorgangs und erfasst ihn „als Prozess einer individuellen und kollektiven Erfindung seiner selbst“.
Der Soziologe verkoppelt schwule Kulturen mit Migration. Er zitiert Robert Park:
Die Stadt schafft „ein Mosaik kleiner sozialer Welten“; dies im Einklang mit einem erweiterten Identitätsdiskurs.
Eribon verweist in ständiger Praxis auf die „Suche nach der verlorenen Zeit“. Das Werk funktioniert für ihn als Matrix der Moderne. Eribon untersucht die Scharniere zwischen den Welten. Proust kann seine Sexualität nur deshalb zum heimlichen Dreh- und Angelpunkt eines literarischen Universums erklären, weil sie diplomatische Beziehungen zu Hochburgen der Heteronormativität unterhält. Das auf beiden Seiten Verdrängte tritt massiv in den Kulissen auf.
*
Didier Eribon führt Marcel Proust als Soziologen ein. Der Kollege klassifiziert den Klassiker als Theoretiker des sexuellen Einzelgängertums sowie als schwulen Snob, der seine Exzellenz auch an den eigenen Neigungen erkennt.
Proust zieht sich hinter Kork zurück und lässt sich berichten. Auf Paris reagiert er wie die Leute heute auf Twitter reagieren. Er ist ein Junkie der Statusmeldungen und Kommentarspaltenexzesse. Sein Nachrichtendienst besteht aus Chauffeuren und anderen Subalternen. Proust lässt sich von den Matadoren der Dienstbotenportale informieren.
Eribon nutzt Prousts strahlende Boulevardanzeiger, um ein homosexuelles Phänomen einzuleuchten.
Während „die Hüter der sozialen und moralischen Ordnung die Entwicklung der Städte als einen Faktor der Desorganisation und des Strukturverlusts“ deuten, stellt sie „für Schwule den Ort … einer sozialen Reorganisation … dar“.
Die sonst wo stigmatisierte Sexualität avanciert zum Exklusivitätsmerkmal. Eribon widerspricht negativen Interpretationen dieses Vorgangs und erfasst ihn „als Prozess einer individuellen und kollektiven Erfindung seiner selbst“.
Der Soziologe verkoppelt schwule Kulturen mit Migration. Er zitiert Robert Park:
Die Stadt schafft „ein Mosaik kleiner sozialer Welten“; dies im Einklang mit einem erweiterten Identitätsdiskurs.
Eribon verweist in ständiger Praxis auf die „Suche nach der verlorenen Zeit“. Das Werk funktioniert für ihn als Matrix der Moderne. Eribon untersucht die Scharniere zwischen den Welten. Proust kann seine Sexualität nur deshalb zum heimlichen Dreh- und Angelpunkt eines literarischen Universums erklären, weil sie diplomatische Beziehungen zu Hochburgen der Heteronormativität unterhält. Das auf beiden Seiten Verdrängte tritt massiv in den Kulissen auf.
Der geschulte Blick erkennt Homosexualität auch da, wo sie nichts von sich weiß. Der invertierte Gesellschaftsflor haftet an jeder Champagnerflasche und zischt mit den Boten durch die Personalsphären großer Häuser.
Eribon unterstellt Proust eine Gesellschaftsbetrachtung „durch das Prisma der sexuellen Inversion“. Ich glaube, dass Proust radikaler vorgeht. Er entdeckt in der Heterosexualität das Verkappte und platziert es wie ein Wahrzeichen auf dem Sprachplateau.
In dem Proust’schen Prospekt erscheinen die Signaturen der Fortpflanzungsgemeinschaften als Fassaden. Schwule und Lesben wahrten Jahrhunderte den Schein in heterosexuellen Konstellationen und betrieben im Weiteren Fassadenkletterei.
„Die Homosexuellen waren gute Familienväter und hielten sich eine Geliebte nur, um den Schein zu wahren.“ Baron Charlus über die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.
Proust antizipiert den Übergang von einer diskriminierenden Schilderung der Homosexualität zu einer universellen. Er ordnet die homosexuelle Praxis einem weiteren Feld zu und kommt via Bisexualität auf den Punkt:
„Sie lieben Frauen und zeigen es, sie lieben Männer und verstecken sich dabei.“
Der Antizipation verweigert Proust die Entschleierung. Charlus lässt er grotesk altern: als Repräsentationspopanz einer Generation von Gestern, die in der Gegenwart nichts mehr zu bestellen hat.
Zwischen Rollen und Identitäten schwanken die Figuren der Recherche durch ein Panoptikum der Inkohärenz. Proust fällt sich selbst ins Wort. Er monumentalisiert Charlus als widersprechende Instanz und demontiert ihn als Person. In den Verschiebungen verschwindet Prousts ursprünglichste Theorie von Homosexualität, nach der eine im Männerkörper Gefangene am Begehren verzweifelt. Sie sehnt sich nach einem heterosexuellen Mann und findet in Beziehungen zu Homosexuellen nur Ersatz.
Didier behauptet von Jean Genet, er habe Proust fortgeschrieben. Bei Genet halten Prousts „Burschen und Matrosen“ das Heft in der Hand. Auf den ersten Blick spielen sie keine Rollen, sondern sind dies oder jenes mit sturer Eindeutigkeit. Didier exponiert die Unterscheidung zwischen „Männer“ und „Tanten“ – „den Mackern und ihren Frauen/Jungen“.
Die Kategorien spiegeln gesellschaftliche Urteile und natürlich auch die Praxisbezogenheit der Anschauung im Geist einer Orthodoxie. Die Paare heiraten nach eigenem Ritus.
„Ich trug weder Schleier, Blumen noch Kranz … aber in der kalten Luft wehten alle erhabenen Hochzeitsgedanken um mich herum.“
Die üblichen Dramen werden zur Aufführung gebracht. Die natürlichen Abläufe untergraben die Klarheit der Gliederung. Vormalige Eleven wechseln ins Lager der Galane und übernehmen im nächsten Durchlauf eine Braut. Macker unterwerfen sich besseren Schlägern. Die Eindeutigkeit zersplittert und erzeugt beim Erzähler die Krise einer versagenden Ordnung. Mit Verachtung lehnt er sich gegen sein Unglück auf.
Genet räumt die Spielarten der Sexualität und des Verbrechens in Gilden- und Zunftfächer ein. Der zur Dominanz Begabte vermag auch als Dieb mehr als „die parfümierten Jungs“. Er verliert seinen Nimbus, wenn ihm die eigene Stärke nicht mehr genügt. Fast alle sind dazu verdammt, diesen Punkt zu erreichen.
Die Erfindung von Widerstandsgesten
Oscar Wilde war kein Meister der Kunst um ihrer selbst willen, sondern ein Motor der Schwulenemanzipation unter schwierigen Bedingungen. Er reüssierte als Schriftsteller und scheiterte als Mensch.
Didier Eribon erwähnt in seinen „Betrachtungen zur Schwulenfrage“ „homosexuelle Kodes“ in einem Kreis um Oscar Wilde. Man will sich aussprechen. Die Repression diktiert den Text. Gleichzeitig entsteht ein „Gegendiskurs“ zu einer Pathologisierung der Sexualität, in der die Homosexualität als Anlass zur Verfolgung sichtbar wurde. Nach Eribon bemächtigte sich die Psychiatrie „der Homosexuellen ebenso wie der Irren“, um sie gemeinsam als ein Paar aus „Narren und Wüstlingen“ auf ein infernalisches Zuschreibungskarussell zu setzen. Die auf Wilde reagierenden Autoren so wie Wilde selbst erfinden „Widerstandsgesten“ und schreiben sie ihren, so formuliert Eribon, „Wortmeldungen“ ein.
Sie sind weit davon entfernt, gegenhegemonial zu wirken. Es geht ihnen nicht darum, eine Kraft aufzubauen, auch nicht darum, Gegenkräfte einzuschränken. Vielmehr nutzen sie die Dynamik aus den herrschenden Verhältnissen. Wie Surfer und Skiläufer berühren sie gewisse Grenzen im Tanz mit den Elementen. Das sieht schön aus. Die Gesellschaft verdaut die Strömung als L‘art pour l’art und ästhetischen Rigorismus. Die Akteure vermeiden es bereits, mit ihrer Sexualität „eine essentialistische Konzeption von Identität“ zu restaurieren; ein Vorwurf, dem sich Eribon ausgesetzt sieht.
Heterosexuelle Schaulust
Die Stadt eröffnet einer Praxis der Freundschaft Raum. Didier Eribon rechnet die schwule und lesbische Geselligkeit zur Politik.
*
Eribon findet bei Jean Genet das Material für eine „Anamnese der verborgenen Konstanten“ (Pierre Bourdieu).
Der Autor diskutiert subkulturelle Strategien des 20. Jahrhunderts. Er analysiert eine mal mehr, mal weniger sichtbare gay culture im Plural ihrer Erscheinungen als Metropolenphänomen.
Emanzipation braucht Urbanität und Permissivität. Eribon erinnert an „Transvestiten Bälle in New York“ als Magneten heterosexuellen Schaulust. Er beschreibt Subkulturen als Erben antiker Lebensweisen. So habe einen Abglanz der Belle Époque und années folles die Ikonografie und Barmetaphorik der Pariser Treffpunkte illuminiert, als James Baldwin in der Stadt war. Eribon verweist auf Baldwins „Giovannis Zimmer“. Das ist Anlass genug, hier noch einmal meine Besprechung des Titels im Abspann mitlaufen zu lassen.
Zur Signatur der Stadt gehört die Schwulenkultur, sagt Eribon. In seiner Diktion kommt es da zur „Interaktion mit anderen Populationen“. Die Konturen der „Enklaven“ verschwimmen. Alles ist so divers und fluid wie jedes Entrepreneur Aventure.
Eribon veröffentlicht eine Sammlung kritischer Einlassung für die offene Community, die im Widerspruch zu dem stehen, was tatsächlich passiert, wie etwa in dem Wort von der „sektiererischen Ghettoisierung“.
Die Öffnung als Schließung zu begreifen, deutet auf eine Angst vor Kontamination hin. Bemerkt wird der Schamverlust als Mangel an Anstand. Übrigens macht der Anstand in den medialen Empörungsmahlwerken eine erstaunliche Karriere. Jeder beansprucht ihn. Gern kombiniert man den behaupteten Anstand mit Beleidigungen.
Resignifizierende Praxis
Für Eribon bietet die Stadt Flächen, auf denen man sich „der Beleidigung weitestmöglich … entziehen“ und „das Verhältnis von Unterordnung und Auflehnung“ optimieren kann.
Die Stadt eröffnet einer Praxis der Freundschaft Raum. Eribon rechnet die schwule und lesbische Geselligkeit zur Politik.
Zwischen Sujet und Genre
Ich werde gewesen sein.
Ich werde sein.
Ich werde sitzen in einem Abteil der Holzklasse und selbstverständlich wird im Zug geraucht werden. Denn die Geschichte spielt in den 1950er Jahren. Der Zug wird voller Rekruten sein, die man vor der Abteiltür zu halten sich befleißigt. Eine junge Frau wird nervös auf die bedrohliche Mischung aus jung & männlich reagieren. Gestreift von einem Testosterontsunami wird sie die Aufmerksamkeit des Erzählers suchen und sich darüber wundern, dass auf dem Feuer einer kleinen Offerte, in der sich der Atavismus eines Schutzgesuchs verbirgt, kein Interesse kocht.
James Baldwin, „Giovannis Zimmer“, Roman, ins Deutsche von Miriam Mandelkow, dtv, 208 Seiten, 20,-
David, ein Amerikaner in Paris wie er im Buch steht, wird den Flirt verweigern und am Gespinst einer abdeckenden, Exklusivität in der Menge erzeugenden Vertraulichkeit nicht mitwirken. Der Erzähler haftet an der Reisenden; baut sie aus; setzt dem Charaktergehäuse einen Turm auf und einen Erker vor. Sie könnte Brett heißen, wie die Heldin in Hemingways „Fiesta“. Die Ex-Krankenschwester lässt sich durch das Europa der Beaten Generation (Gertrude Stein) treiben. Sie nimmt die Grafen und die Boxer mit, aber ihre Liebe gehört dem impotenten Jake, der vor Sehnsucht männlich-melancholisch verglüht.
Jakes Tragik ist die Lächerlichkeit eines Unvermögens, dessen Gegenteil im Dutzend billiger zu haben ist. Davids Tragik ist die verborgene Homosexualität. Man kann Jake und David einfach theweleiten. David unterwirft sich den Konventionen zum Nachteil jener, die an ihn glauben. Er erkennt sich zutreffend verhaftet in „selbstgefälliger Masturbation“, egal mit wem. Seine Sicht auf die Verlobte, eine trinkfeste Hella, gleicht einem Akt der Selbstverteidigung und so auch des selbstsüchtigen Zynismus. Davids Urteile hängen von den Urteilen ab, mit denen er rechnet.
Der Kritik aus setzt David die Liebe zu Giovanni. Der Liebhaber stellt einen Limes vor das Märchenland, in dem David mit sich selbst Blindekuh spielt.
James Baldwin beschreibt ein Erwartungsdreieck mit emanzipatorischem Impetus. David nutzt die Gelegenheit eines vermiedenen Geständnisses, Marken seiner erotischen Keimzeit zu erinnern. Er spricht aus dem Fenster, während er sich Giovanni gegenüber ausschweigt.
Das wirkt enorm theatralisch. Coney Island liefert den Schauplatz erster sexueller Erfahrungen.
„Es war Sommer. Wir hatten keine Schule … Ich glaube, es fing beim Duschen an.“
Der verachtete Vater
Man kann sich denken, wie es weitergeht. Die Redundanz und das Leiernde der Evolution erzeugen ihre Kakofonie hinter einer Lärmschutzwand. David steht davor und fühlt sich auf poetische Weise einsam. Übrigens ist er weiß, so wie die Objekte seiner Begierde weiß sind. Ein Schwarzer Schriftsteller erzählt von der Liebe unter weißen Männern. Zum Zeitpunkt der ersten Veröffentlichung ist das unerhört. Baldwin sieht sich Schwierigkeiten ausgesetzt, die wir uns, glaube ich, nicht mehr ernsthaft ausmalen können.
Davids Vater tritt als milder Trinker auf. Zwei Sätze und schon kennt man das Programm. Es nährt die Verachtung im Sohn. Die Verachtung, die den vermeidenden Vater trifft, verankert sich in David. Die Inkorporation lässt sich nicht lange ignorieren. David entzieht sich dem Verderben. Er strebt eine Hipster-Existenz in der alten Welt an. Boris Vian grüßt von einer Brücke über die Seine.
Paris ist für David eine Offenbarung der Freiheit in konkreter Armut. Er geht da in eine unbestimmte Lehre. Im zweiten Lehrjahr kommt Giovanni ins Spiel. Der Name sagt es an. Auch Giovanni verkehrt als Expatriierter im Milieu. Das Milieu bietet den Schutz verständnisvoller Patrone.
„Hin und wieder führte die Polizei (nach vorwarnender Absprache mit dem Wirt) eine Razzia durch.“
...
Junge Provinzfranzosen finden ein Auskommen als Köche bei Exilamerikanern, während ihre Landsleute in Indochina fallen. Baldwin schildert abweichende Lebensversuche als Pittoresken im Räuber- & Gendarmspielstil.
P.S.
Bessie Smith - The genius sings the Blues - I Ain't Got Nobody