Georgien in den Neunzigern, die sowjetischen Nachbilder sind verblasst. Der Republik droht mehr als ein Kollaps. Zwischen Aufbruch, Putsch, Gegenputsch, Separation und Annexionsversuchen verflüchtigt sich das staatliche Interesse an den Zöglingen in einem „Internat für geistig beeinträchtige Kinder“. Vereinzelt machen sich die Kinder als Bettler*innen und Prostituierte auf den Bahnhöfen von Tbilissi selbständig.
Eine Achtzehnjährige verharrt rauchend hinter ihren Kindheitsgittern. Lela managt die Vergessenen und Verwaisten. Sie bewahrt Erinnerungen an heldenhafte Vorgänger*innen – an Entlassene mit phantastischen Biografien und unklaren Diagnosen, die zu den Beeinträchtigten gesteckt worden waren vielleicht nur infolge elternhäuslicher Miseren.
Nana Ekvtimishvili, „Das Birnenfeld“, aus dem Georgischen von Ekaterine Teti und Julia Dengg, Suhrkamp, 220 Seiten, 16.95,-
Die Verwahrten zeigen allenfalls abweichendes Verhalten. Schwachsinnig sind sie nicht. Sie verstehen sich auf Verbesserungen ihrer Lage mit ausgeklügelter Kommunikation. Sie bilden Mannschaften und finden Gegner unter „Normalen“.
Lela übernimmt die Mutterrolle bei einem von seiner leiblichen Mutter vernachlässigten Jungen. Ihr explosives Wesen verbindet zarte Regungen mit Ruppigkeit. Sie erträgt kaum, wie Irakli unter der Liebesverweigerung leidet. Sie selbst wurde von dem Lehrer Wano missbraucht. Er vergreist in der Handlungsgegenwart. Lela „schaut in (Wanos) welkes, altes Gesicht, seine schwarzumränderten Augen, die trüb hinter der Brille zu erkennen sind. Sie schaut auf seinen schlaffen, heruntergezogenen Mund …“
Auch der Titel „Das Birnenfeld“ kommt direkt aus der Heimhölle. Auf dem Birnenfeld fanden in Lelas Kindheit Vergewaltigungen statt. Die Opfer blieben auf dem Feld zurück, während sich die Täter*innen zerstreuten. Schließlich schlossen sich die Erniedrigten wieder einer Gruppe an, ohne Aussicht auf Gerechtigkeit und Rache. Sie liefen einfach mit, als sei ihnen nichts geschehen. So einfach lässt sich eine Persönlichkeitsspaltung erzählen.
Ekvtimishvilis Sprache entbindet jenes Grauen, das wir mit geschlossenen Anstalten assoziieren. Sie erzählt von körperlicher Gewalt und geistiger Armut. Sie beschreibt eine Normalität der Abweichung. Ein amerikanisches Ehepaar auf Adoptivschau verguckt sich in Irakli. Lela besorgt ihm eine Englischlehrerin für das Gröbste des Neustarts. Auf der Gegenschräge ihrer Fürsorge treibt sie ein mörderischer Hass auf Wano an.