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2020-05-03 03:55:14, Jamal Tuschick

Turbo der Aufklärung

Lissabon am Allerheiligen 1755 – Ein Erdbeben und ein Tsunami machen gemeinsame Sache. Sie lösen eine Feuersbrunst aus, die wie eine „Pranke“ (Voltaire) eine Stadt trifft, die als phönizische Gründung lange vor Rom zu einem historischen Subjekt wurde. Ein Chronist des Grauens war der Engländer Daniel Braddock. Er schrieb:

„The morning of All Saints' Day, November 1, 1755, was fine and clear in Lisbon. There was a light breeze from the north-east. The city had been cleaned and decorated for the greatest religious feast of the year. The bells of Lisbon's 40 churches and 90 convents rang to herald High Mass.“

Eingebetteter Medieninhalt

Unmittelbar nach der Katastrophe erklärte Voltaire „die Natur zur Feindin“. „Er protestierte öffentlich gegen das Verbrechen der Natur.“ Im Sturm und Drang der Aufklärung wollte er sie absetzen.

Schirach und Kluge arbeiten sich gründlich an der Idee Fortschritt via Katastrophe ab. Der Mensch ist eine Grille der Natur, die sich ungerührt kritisieren lässt. Kritischer auf Kritik reagiert der Staat, der im Spiegel seiner Ohnmacht hässlich erscheint. Kluge bezeichnet das Lissaboner Erdbeben als Katalysator der Aufklärung. Man setzte die Vernunft an die Stelle Gottes und weiter ging es im Universaltext. Das nimmt Schirach als Ansporn: Nach der Pest von Florenz und dem Erdbeben von Lissabon nun das Virus von nebenan.

„Ich glaube, dass (es) uns an eine Zeitwende gebracht (hat).“

Als die Beulenpest 1348 Florenz erreichte, begann das große Sterben unter Aufsicht eines Schriftstellers. Boccaccio hielt fest, wie man mit dem massenhaften Tod verfuhr. Er protokollierte die Prozesse der Verrohung.

Daran erinnert Ferdinand von Schirach in seinem Corona-Gespräch mit Alexander Kluge. Schirach sieht sich in der Lage um, die Boccaccio im „Decamerone“ schildert. Der Autor machte ein Landhaus vor Florenz zum Schauplatz einer Begegnung Heimgesuchter. Sieben Frauen und drei Männer sind vor der Pest in die florentinischen Hills geflüchtet. Angehoben von Sommerfrische-Empfindungen und gedämpft von Angst stellen sie die Gegenwärtigkeit eines schrecklichen Todes in den Glanzschatten der Erzählkunst. Der italienische Literaturvorsprung ergibt sich aus dem Einschluss schwerwiegender Bedrückung und altem Wissen. Die Pest gebar die Neuerer der Renaissance auf einem römischen Feldbett.

Der Helmut Schmidt von Lissabon

Kluge bilanziert:

„Aus der Seuche entsteht etwas Neues.“

Die Gelehrten unterhalten sich fortlaufend über Shutdown, Lockdown & Touchdown. Sie bringen die akuten Spitzenwerte mit der Geschichte Europas zusammen. Mal reden sie über den Gran Giro als Kavalierstour des italienischen Adels, der im Gegensatz zu englischen Debütanten im Grunde zuhause, jedenfalls kontinental bleiben konnte, um sich da den Feudalismus als eine Sache der Zugehörigkeit mit Vorbehaltsklauseln klarzumachen.

Ferdinand von Schirach und Alexander Kluge: „Trotzdem“, Luchterhand, E-Book, 6,99 Euro
Kluge ordnet den Shutdown historisch-rechtlich als kriegsrechtliche Generalanweisung ein. Sie gehört in den Themenkreis des Belagerungszustandes. Schirach verstärkt den kritischen Ton: „Unsere Freiheitsrechte (wurden uns) nicht auf Bewährung verliehen.“

Er erwähnt, dass wir ohne jedes Verdienst Maschinen benutzen, die eine hunderttausend Mal höhere Rechnerleistung erbringen als das NASA-Computersystem „zur Zeit der ersten Mondlandung“.

Was macht diese Ungleichzeitigkeit mit uns? Führt das Nichtbegreifen der Dinge, die unser Verhalten steuern, nicht zwangsläufig in die Regression? Schirach kommt vom Smartphone auf Papst Gregor VII., der von seinen Zeitgenossen als „reißender Wolf“ wahrgenommen wurde. Er zwang einen Kaiser auf die Knie. Jenem Heinrich ward mit fünf ein Weltreich angetragen. Das konnte er genauso wenig begreifen wie wir in der Mehrzahl unsere Wischtelefone. Die sie begreifen/ sind nicht wir.

Schirach erzählt, wie er am Eierkochen scheiterte. Ein Schmorschaden ergab sich, da die Transportsicherungen unter den Herdplatten nie entfernt wurden. Das Nie betrifft einen Zeitraum von fünfzehn Jahren. Schirach überbietet die Feststellung:

„Seit dreißig Jahren gehe ich zum Frühstück ins Café. Ich esse nie zuhause.“

Die in Kombination mit einem starken Distanzbedürfnis. Kluge dazu:

„Ihre Haltung im Café ist auch eine der Ferne.“

Das ist schon ganz schön freakig. Nicht zu kochen: erscheint mir als Defizit kurz vor einem Makel. Ich kann mir das nicht vorstellen, ein Mensch, der keine Zwiebeln schneidet; der nicht die auf dem Markt getroffenen Entscheidungen auf einer blanken Arbeitsfläche noch einmal bedenkt. Der nicht darauf achtet, nicht in den Vegetationsresten zu hausen. Der nicht bemerkt, wie viel Verpackungsmüll anfällt. Die größte europäische Naturkatastrophe fand 1755 in Lissabon als Erdbeben-Flutwellen-Kombi statt. Sie forderte im ersten Rutsch dreißigtausend Tote. Goethe fasste das Glück im Unglück: „Und der Glücklichste darunter ist der zu nennen, dem keine Empfindung, keine Besinnung über das Unglück mehr gestattet ist.“ Das Ereignis bestimmte die Richtung des aufgeklärten Katastrophendiskurses. Es transformierte das europäische Denken nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass zwar so gut wie alles in der Erde versankt, dass Rotlichtquartier aber verschont blieb. Während das Ausmaß der portugiesischen Verheerungen seine Konturen allmählich erkennen ließ, wurde in Paris getanzt.

Die Feststellung dieser Gleichzeitigkeit verdankt sich Voltaire. Für Goethe gewann die Kunde vom Beben und der mit dem Beben einhergehenden „Wasserbewegung“ (Immanuel Kant) aka Tsunami die Kraft eines Schlüsselerlebnisses: „Durch (das) außerordentliche Weltereignis wurde jedoch die Gemütsruhe des Knaben zum erstenmal im tiefsten erschüttert.“ Originale Rechtschreibung aus „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“.

Voltaire dichtete empathisch: „Betrogene Philosophen. Ihr schreit: „Alles ist gut!“

Er riet der Gemeinde: Kommt her und seht selbst. Guckt euch das Desaster an … die schwelenden Ruinen und abgesprengten Gliedmaße.“

Kluge gleich wieder: „Was für ein schöner Tag jener katastrophale gewesen sei, ein himmlisch-hoffnungsfroher Herbsttag nämlich, und so war auch das Erdbeben beinah verträglich. Die D-Day-Dimension bekam das Desaster in der Konsequenz einer Verkettung fataler Umstände.

Schirach kennt den Helmut Schmidt von Lissabon: ein Marquês des Pombal. Am Tag des Unglücks setzte der Superminister den Wiederaufbau in Gang. Man begrub die Toten und hängte die Plünderer. Man ließ sie hängen, um allen, die noch kreuchten klarzumachen, wo der Barthel den Most holt.

„Praktizierte Vernunft“, nennt das Kluge.

Der Benefit des Schadens ergab sich aus dem Willen zu einer erdbebenresistenten Bauweise. Auch wir werden von dem Sars-Cov-2-Virus profitieren. Der Plural schließt jene aus, für die das nicht gilt.

Die Vernunft trat an die Stelle Gottes.

„Die einzige Entschuldigung Gottes ist, dass er nicht existiert.“ Stendhal

So wurde das Erdbeben von Lissabon zum Turbo der Aufklärung.

Shutdown der Grundrechte?

Aus der Ankündigung

Ist der aktuelle Shutdown unserer Gesellschaft auch ein Shutdown unserer Grundrechte? Ferdinand von Schirach und Alexander Kluge gehen der Frage nach, was die Corona-Pandemie für unsere Gesellschaftsordnung und unsere bürgerliche Freiheit bedeutet.

Niemand hätte sich vor zwei Monaten vorstellen können, dass wir diesen Ausnahmezustand erleben. Es wird heute von manchen behauptet, das sei die Zeit der Exekutive. Aber das ist falsch. Wir leben in Demokratien, wir haben eine Gewaltenteilung. Noch immer muss das Parlament entscheiden, und daran darf sich auch nichts ändern. Noch scheint unsere Demokratie nicht gefährdet. Aber die Dinge können kippen. Autoritäre Strukturen können sich verfestigen, die Menschen gewöhnen sich daran. Erosionen sind langsame Abtragungen, keine plötzlichen Ereignisse.