Shoreditch im Mai 2016 - Die Frage lautet: Was verbindet einen Farmer in Norfolk, dessen konservatives Repertoire offensichtlich erscheint, mit einem fashionvisionären Kombattanten im Kulturkampf von Shoreditch ...
Als in England herumreisender Analyst der englischen Liberaldemokraten erkennt der Kanadier Christopher Wylie, dass es keine traditionelle Polit-Plattform gibt, auf der sich typische Lib Dems-Wähler treffen. Die Frage lautet: Was verbindet einen Farmer in Norfolk, dessen konservatives Repertoire offensichtlich erscheint, mit einem fashionvisionären Kombattanten im Kulturkampf von Shoreditch und mit einem Professor in Cambridge. Der Autor erklärt die drei Akteure zu Brüdern im Geist. Tatsächlich eint sie ihr psychologisches Profil. Sei treffen sich auf einer Linie von offen, exzentrisch und verbohrt. Offen übrigens in der Kombination mit eher unverträglich.
Darauf muss man erst mal kommen.
Das heißt, man muss lernen, geo- und demografische Informationen neu und vorderhand paradox zu verknüpfen. Gegensätze und Gemeinsamkeiten verbergen sich hinter den Leuchtturm-Präferenzen, die ihre basale Aussagekraft im Spektrum von Stadt – Land, reich – arm, gebildet – ungebildet etc. eingebüßt haben.
Christopher Wylie, „Mindf*ck. Wie die Demokratie durch Social Media untergraben wird“, auf Deutsch von Gabriele Gockel, Claus Varrelmann, Bernhard Jendricke, Thomas Wollermann, Dumont, 416 Seiten, 24,-
Der gemeinsame Nenner ist die Betrachtungsweise. Und die sehen wir auf Facebook auch dann, wenn jene Distinktion, die vorschreibt, die Unmündigen und den Luxus aus dem Spiel zu lassen, gewahrt bleibt. Man sieht, wie jemand auf das Leben schaut: solitär oder kommunitär.
Wylies geniale Perspektive wird dann im Verein mit dem Fünf-Faktoren-Modell zur Geschäftsgrundlage von Cambridge Analytica.
Irgendwo leistet Wylie Abbitte. Ich habe das überlesen, weil ich es verblasen fand. Aber jetzt dämmert es mir. Zumal Wylie viel besser als wir ermessen kann, wie groß der Schaden ist. Wir können uns nicht umbauen, und unsere Daten sind weltweit in der Auswertung. Lügen hilft da nicht mehr. Performen auch nicht.
Wylie denkt über eine Wahrnehmungsdifferenz nach, die uns gleich beschäftigen wird.
Zusätzliche Komplexitäten
Die Supereffekte des Mikrotargeting, Analyse und Manipulation, werden von dem US-amerikanischen Zweiparteiensystem begünstigt. Da herrscht die Dualität an allen Fronten. Doch Wylie will das, was er von den Obama-Data-Mining-Mineuren gelernt hat, in Kanada umsetzen, wo fünf Parteien konkurrieren. Besonders zu erwähnen ist der Bloc Québécois, ein sozialdemokratisch-separatistisches Bündnis, entstanden aus einer Sezession von der antinomisch aufgestellten, 2002 aufgelösten Progress-Konservativen Partei. Aus der kanadischen Melange ergeben sich eine Vielzahl von Wechselwähleroptionen im Querfrontspektrum. Auf dieser Folie ist beinah alles möglich. Die Berechnungen zielen auf Berechtigte, die von grünen und reaktionären Überzeugungen bestimmt werden, also am Wahltag zu Agenten sehr unterschiedlicher Ergebnisse werden können.
Bevor Wylie begreift, wie man bei dieser Klientel die Hebel ansetzen muss, verschlägt es ihn nach London. Die Liberaldemokraten saugen ihn auf, „die Zentrale (wirkt) wie ein … Ramschladen“, und schon macht Wylie wieder Wahlkampf, und zwar – wenn auch gegen seinen Willen – nach den Devisen der brute force.
Wikipedia weiß: „Die Brute-Force-Methode … auch Exhaustionsmethode (kurz Exhaustion von lateinisch exhaurire ‚ausschöpfen‘), ist eine Lösungsmethode für Probleme aus den Bereichen Informatik, Kryptologie und Spieltheorie, die auf dem Ausprobieren aller möglichen (oder zumindest vieler möglicher) Fälle beruht. Auch der Begriff erschöpfende Suche (engl. exhaustive search) ist in Gebrauch.“