Nabel der Republik
Die Einschläge kommen näher und alles wird einfacher. Wir, die wir Jörg Schröder mit dem Abstand von Nachkommenden großartig fanden, reisen längst selbst mit leichtem Gepäck. Wie oft ist sie besungen worden, die Symbiose zwischen Barbara Kalender und Jörg Schröder. Sie waren ein Traumpaar, das nicht aufhörte, sich in der Arbeit zu verwirklichen. Das hatte auch etwas Ungeheuerliches. Dass dieser alte Macho nach vielen Höhenflügen und Bruchlandungen und dem ganzen hochgejazzten Puffmuff mit einer einzigartigen Vogelsbergerin noch einmal von vorn anfangen durfte. Barbara Kalender wirkte wie aus einem Roman von Peter Kurzeck auferstanden oder einem Aussiedlerhof entsprungen, unfassbar unmittelbar. Eine Weile wunderte mich, dass sie sich an dem listigen, um sieben Ecken gewickelten Schröder nicht stieß. Lange kam sie mir so vor, wie eine oberhessische Tramperin auf dem Weg nach Frankfurt am Main. Bei Schröder stieg sie ein, als von dessen Jaguarphase nur noch eine Radkappe übrig war. Dem „Stern“ hatte er sich als Schlossherr präsentiert. Als deutscher Statthalter von Olympia Press brachte er es dahin, von Heinrich Böll verteidigt zu werden; zu einer Zeit, als man noch die Drucker drankriegte, wenn es um Pornografie ging. Ich weiß nicht mehr an welcher Stelle Schröder erzählt, wie dumm und stumpf (stumpf ist ein Schröderwort) Böll als der gute Mensch aus Köln in Wahrheit war, so eine pazifistisch aufgerüschte Landsernulpe, um kurz zu schrödern.
Ich war schon mit siebzehn verschrödert. Das lief über Brinkmann (Rolf Dieter), der sich 1969 anschickte, ein Star zu werden. Seine gemeinsam mit Ralf-Rainer Rygulla veröffentlichte Anthologie amerikanischer Untergrundliteratur „Acid“ war die erste MÄRZ-Publikation. Der Verlag war aus einer Sezession mit dem Melzer Verlag hervorgegangen. Man erzählte sich das als Kaperfahrt. Die Moral war aber eine ganz andere. Schröder wurde nicht müde, die MÄRZ-Gründung als eine Bloßstellung des Kollektivwahns von Achtundsechzig zu verbreiten. Die MÄRZ-Aktivist*innen scheuten unternehmerische Risiken, der Verlag blieb an Schröder hängen und wurde zur wichtigsten Agentur des historischen Augenblicks. Während der MÄRZ-Stern aufging, versenkte sich Brinkmann selbst, nicht zuletzt mit zügigen Distanzierungen von den sogenannten „US-Dingern“ „Acid“ und „Silverscreen“.
Mein erstes MÄRZ-Erlebnis war Schröders verfrühte Autobiografie „Siegfried“. Er sei „auf den Rieselfeldern von Berlin geboren“ heißt es da oder sonst wo. Helmuth Karasek entblödete sich, „Siegfried“ als Selbstentleibung und Manifest der Verzweiflung anzupreisen und Schröder so hinzustellen, als habe er sich um Kopf und Kragen geschrieben. Dabei verknüpfte Schröder einfach nur alles mit allem und erklärte sich zum Nabel der Republik nach der Devise, wo ich bin, da ist oben, und wenn ich unten bin, dann ist unten oben. Das heißt, die Frankfurter Kaiserstraße war oben und das Café Express und die Laufhäuser. Diese Stimmungen sind nun weiter weg als das Kaiserreich. Es ist die Helga-Matura- und Peter „Hamlet“ Kuper-Welt, in der Schröder als Repräsentant eines riskanten Lebensstils kursiert. Er dreht seine Kreise in der ausgeflippten Normalität der Zecher mit den guten Berufen. Da mischt sich das Milieu jener, die am Main die Faust tragen, mit genialen Steuerberatern, versoffenen Anwälten und gefährdeten Bankkaufleuten. Archäologen der Zukunft werden Frankfurts soziale Topografie auch mit Hilfe von Schröder erzählt ergründen.
Barbara Kalender schreibt am 13. Juni 2020: Jörg Schröder ist heute Nacht um 2 Uhr in Berlin gestorben. Sein Tod ist ein großer Verlust, denn wir lebten und arbeiteten seit vierzig Jahren zusammen. Wir waren ein Kugelmensch, jenes von Platon überlieferte mythische Wesen mit kugelförmigen Rumpf, vier Händen und vier Füßen und zwei Gesichtern, die in unterschiedliche Richtungen blickten. Das gab uns Kraft und Wagemut für alles, was wir in Angriff nahmen. Unsere Freunde, ebenso wie die Leserinnen und Leser von ›Schröder erzählt‹ kennen Jörg Schröder und sein Leben sehr gut, daher wissen sie von unserer engen Verbundenheit. In unserem Work in Progress, den 74 Folgen, versuchten wir, so ehrlich zu erzählen, wie es nur geht. So, wie es Jörg einmal in einem Interview gesagt hat: »Wir wollten näher an die Wahrheit ran. Die ganze Wahrheit kennt man ja nicht, aber wir wollten näher ran. Dazu gehörte natürlich dieses Über-sich-selber-Reden, aber eben auch über Leute, denen man begegnet.«
Jörg war ja nicht nur Schriftsteller, sondern auch Verleger und Buchgestalter. Er erfand das März-Corporate-Identity-Raster, das von der zartesten bis zur brutalistisch-plakativen Typographie alle Möglichkeiten offen lässt. 174 Bücher erschienen im März Verlag, dazu noch zahlreiche Titel bei Melzer und Olympia Press.
Jörg Schröder liebte seine Arbeit, war trotz seiner Krankheiten immer optimistisch und voller Ideen. Ich habe mehr als mein halbes Leben mit ihm zusammen verbracht und werde ihn sehr vermissen. Es war ein Geschenk, mit ihm vierzig Jahre leben zu dürfen.
Er starb dort, wo er vor fast 82 Jahren geboren wurde – im Weddinger Virchow-Kinikum. Im dortigen Deutschen Herzzentrum war er seit vielen Jahren in Behandlung. Die diensthabende Ärztin erzählte, er sei ruhig im Schlaf gestorben. Wir werden seine Asche im heimatlichen Berliner Sand beisetzen. In einem Grab in Niederschönhausen, dort wo bereits die Urne seiner Mutter ruht und wo er als kleiner Junge lebte. Den Termin der Beisetzung teile ich noch mit, dann werden wir von ihm Abschied nehmen.