Stephen Crane war der Oliver Stone des 19. Jahrhunderts
Stephen Crane antizipiert Oliver Stones pseudokriegsberichterstattende „Platoon“-Wackelkameraästhetik. Er schafft surreale Landschaftsbilder, die seelische Zustände spiegeln wie in der Malerei von Max Ernst oder René Magritte. Zudem designt Crane eine Psychologie des unter Druck gesetzten Individuums.
Der Yankee-Rekrut Henry Fleming verlängert unwesentlich eine gewaltige Schlange, die sich über Hügel zieht. Zum Kanon des 19. Jahrhunderts gehörten Kolportagen über die Varusschlacht. Crane beschreibt eine phantasmagorisch in die Länge gezogene Marschkolonne, die an jeder Stelle verwundbar ist und an keiner Stelle Sicherheit gewährt. So zogen die römischen Legionen in ihr Verderben. Auch Henrys Farben werden in der kommenden Schlacht verderben; gegen den Lauf der Geschichte.
Alle gehen vom Sieg aus, während sie vorwärtsstolpern bis zum Abend. Henry bemerkt die Unachtsamkeit der Kameraden, die sich auf einer endlosen Erfolgsstrecke wähnen. Der Heranwachsende verliert sich in Selbstgesprächen. Er entgeht den elenden Routinen beim Marsch und im Lager in Tagträumereien und beiläufigen Absentierungen.
Stephen Crane, „Die rote Tapferkeitsmedaille“, Roman, auf Deutsch von Bernd Gockel,
mit einem Nachwort von Thomas Schneider und einem Crane-Portrait von Rüdiger Barth, Pendragon Verlag, 24,-
Mit allem hat Henry gerechnet, nur damit nicht, als Soldat zu einem Vagabunden zu werden, der unrasiert und fern der Heimat vor einem hohen Himmel am liebsten resignieren möchte.
Ihn treibt Heimweh. Henry sehnt sich nach den Kühen auf der Farm. Gleichzeitig fürchtet er die eigene Feigheit.
Der blanke Realismus macht Cranes frühen Antikriegsroman so modern. Psychotechnisch sind die in Bewegung gesetzten Bauernsöhne nicht weiter als leibeigenes Fußvolk in allen Jahrhunderten. Ihnen fehlen mentale Voraussetzungen. Ihr Kampfwille kommt aus der Scham. Er ist ein Gruppendruckprodukt.
Wer hat das vor Crane schon einmal beschrieben?
Man kann nicht einfach Helden aus dem Hut zaubern. Plötzlich versteht man wieder die Bedeutung der Ritter, für die Kampf und Leben identisch waren.
Die Todesnähe lastet wie ein Mühlstein auf Henry. Alle Begriffe lösen sich auf.
Crane beschreibt ein von Hohn, Häme, Missgunst, Neid und offener Gewalt geprägtes Binnenklima. Jeder Soldat läuft Gefahr, von seinen eigenen Leuten verdroschen oder von einem Offizier mit dem Säbel eingegliedert zu werden. Selbstverständlich werden sämtliche Befehle als schwachsinnig empfunden.
Die Verpflegungslage ist schlecht.
Also, woher soll die Begeisterung kommen? Was kann die Bauernsöhne der Union motivieren? Die Bauernsöhne auf der Gegenseite haben ihnen nichts voraus. Sie sind auch nur Ziele ... leave your life on the body count(er).
Immer deutlicher erscheint Henry der Krieg als persönliches Verhängnis. Je weniger Möglichkeiten zur Unterscheidung ihm zur Verfügung stehen, desto stärker wird sein Wunsch, sich zu unterscheiden.
Seelisch kollabiert/Lunare Präzision
Non-heroic battlefield prose - In wie von Leuchtspurmunition illuminierten Szenen beweist Stephen Crane lunare Präzision. In seiner pazifistischen Kriegsbetrachtung tritt der Autor im verrauchenden 19. Jahrhundert mit einer neuen Perspektive an den Leser heran. Weit weg von der obligatorischen Heldenberichterstattung mutet er ihm Einsichten in die grausame Sinnlosigkeit von Waffengängen zu. Crane beschreibt das Krepieren vor einem Prospekt, in dem der Tod Jahrhunderte ein Märchen war - eine Stilfigur des elegisch-letzten Atemzugs. Er präsentiert seelisch kollabierte Fußsoldaten, die ihre Köpfe hinhalten müssen, in traumatisierten Landschaften. Die Bäume erscheinen nicht weniger verstört als die Männer und ihre Maultiere.
Es gibt immer den weniger beachteten Roman, der einem Jahrhundertwerk die Richtung wies. So wie sich Joyce auf Comte de Lautréamont bezieht, und der Stream of Consciousness bereits vor Joyce in der Literatur strömte, so wie Herbert Huncke Bill Seward Burroughs initiierte, um dann selbst aus der Geschichte zu fallen, so ging Cranes „Tapferkeitsmedaille“ Erich Maria Remarques das Weltbild von Generationen prägendem Antikriegsepos „Im Westen nichts Neues“ voraus.
Aus der Ankündigung
Es ist ein grandioses Meisterwerk, das die Empfindungen, Sorgen und Nöte des einfachen Soldaten im amerikanischen Bürgerkrieg auslotet, Jahre bevor die Psychoanalyse Einzug in die Wissenschaften hielt. Verfasst von einem 22-jährigen Collegeabbrecher, der keine Ahnung vom Soldatenleben hatte und erst 1871, sechs Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs, geboren worden war. Cranes Stil und Dramaturgie lassen den Leser unmittelbar am Geschehen teilhaben.
„Blutige Füße und gottverdammt dürftige Rationen, das ist alles, was wir haben“, maulte der Schreihals. Der Schweiß vermehrte sich im gleichen Tempo wie die Beschwerden. Einige rissen sich auch die schweren Hemden vom Leib. Am Ende trugen die meisten nur noch das, was für einen Soldaten unverzichtbar war: die notdürftigsten Klamotten, Decken, Brotbeutel, Feldflasche, Waffen und Munition.“
Acht Paar Socken
Thomas „Stonewall“ Jackson trug einen zweifelhaften Ehrennamen. Nicht alle Zeugen seiner Performance waren sich einig, dass Stonewall als Synonym für Standfestigkeit zu lesen sei. Manche vermuteten, der Zusatz verdanke sich der (schließlich überwundenen) Unbeweglichkeit des Generals. Stonewall Jackson stammte aus Virginia und da blieb er auch auf der Strecke. Einen Husarenritt in der Gegend von Chancellorsville überlebte er nicht. Immerhin bestätigte der Angriff auf die feindliche Flanke Jacksons Ruf, General Robert E. Lees bester Mann gewesen zu sein.
Die Schlacht bei Chancellorsville fand in den ersten Maitagen 1863 im Landkreis von Fredericksburg statt. Unter den Augen des doppelt so starken Feindes teilte Lee seine Nord-Virginia-Armee. Fighting Joe Hooker, der die Potomac-Armee befehligte, traute seinen Augen nicht. Lees Entschlossenheit und Hookers Zögerlichkeit bestimmten das Wesen der Auseinandersetzung.
Stephen Crane machte das von den Konföderierten gegen die historische Laufrichtung gewendete Treffen zum Hauptereignis seines erstmals 1895 erschienenen und seither nie wieder aus dem Verkehr gezogenen Roman „Die rote Tapferkeitsmedaille“. Das pittoreske Werk liegt nun in neuer Übersetzung vor. Ich werde mich lange damit aufhalten. Ausgangspunkt der Geschichte ist eine ozeanische Erschöpfung. Kriegsmüde, in jeder Hinsicht auf den Hund gekommene Unionssoldaten vereint die Erfahrung, dass noch jeder Aufbruch wieder abgeblasen wurde. Seit Monaten lagern sie im Dreck. Die provisorischen Befestigungen sind besonders illustre Ziele der Verwitterung. Der gemeine Mann löst sich förmlich auf. Ihn zerreibt die Gleichgültigkeit der Verhältnisse. Die Verhältnisse ergeben sich in einer Mischung aus unschönen Witterungsphänomenen und unbequemen Befehlen. Eines Tages behauptet ein merkwürdig uninspiriert charakterisierter „baumlanger Soldat“, dass ein Marschbefehl dem moribunden Schlendrian bald ein Ende machen würde. Die Scheißhausparole löst Verwunderung und Unmut bei den festgefahrenen Infanteristen aus.
Das Autorenauge schwenkt auf den Rekruten Henry Fleming. Der Kriegsneuling ist ein Träumer, der gern für sich bleibt. Er verkriecht sich bei jeder Gelegenheit. Schlachten sind für ihn bis auf Weiteres Märchen. Acht Paar Socken hat ihm die Mutter mitgegeben.
Henry befragt sich. Er fragt sich, wie er sich wohl halten wird, wenn der innere Alarm zur Flucht aufruft. Bereits im amerikanischen Sezessionskrieg (1861 – 1865) wurde der Begegnungsstress unter Gefechtsbedingungen untersucht. Man beobachtete, dass nicht wenige Soldaten ihre Vorderlader mehrfach luden, ohne einmal zu schießen. In den Läufen verkeilte das Blei. Die Probanden hatten zwar den Ladevorgang internalisiert, so dass sie diese Bewegungen unter Umgehung des Bewusstseins ausführten. Der nächste Schritt war aber nicht verinnerlicht worden.
Wenn Sie in Spielfilmen, die den Bürgerkrieg atmosphärisch plündern, Männer mit viel Eisen im Gürtel sehen, zeigt das die Realität jener Zeit, in der Messer und Säbel noch zu ihrem Recht kamen. Zwar begann die Samuel Colt-Ära bereits 1837, doch waren die Perkussionsrevolver nicht einfach zu laden. Kurz gesagt, Kandidaten wie Henry Fleming waren mitunter kaum moderner bewaffnet als der 1734 geborene Daniel Boone mit seiner Kentucky Rifle.
Ich habe die Schlacht bei Chancellorsville bereits vor zwei Jahren gründlich besprochen. Da schien Vieles zunächst heiter bis wolkig. Wohlhabende Bürger statteten Regimenter aus, die mitunter nach ihnen benannt wurden. Eine Freiwilligenvereinigung hieß nach ihrem Gönner Terry’s Texas Rangers (8. Texas Cavalry). Jeder Ranger erhielt ein Gewehr, einen Colt, ein Bowie Messer und einen Sattel. Terry unterstützte den Kongressabgeordneten, Publizisten, Verleger, Anwalt, Arzt und Colonel der Konföderation John Salmon Ford. Gemeinsam mit Ford und Gouverneur Thomas Saltus Lubbock (1817 – 1862) schiffte sich Terry im Hafen von Matamoros ein. Via Galveston segelten die Sezessionisten nach New Orleans. Da nahmen sie den Zug nach Richmond, Virgina, um sich General James Longstreet zu unterstellen. Ihren Aufrufen folgten insgesamt 1170 Texaner. Terry führte seine Ranger von Virginia nach Nashville, Tennessee, und weiter nach Bowling Green, Kentucky. Terry fiel vor Woodsonville, Kentucky. Lubbock sagte auf der Beerdigung: No braver man ever lived.
Wackelnde Bilder - Stephen Crane war der Oliver Stone des 19. Jahrhunderts
Stephen Crane antizipiert Oliver Stones pseudokriegsberichterstattende „Platoon“-Wackelkameraästhetik. Er schafft surreale Landschaftsbilder, die seelische Zustände spiegeln wie in der Malerei von Max Ernst oder René Magritte. Zudem designt Crane eine Psychologie des unter Druck gesetzten Individuums. Er folgt den dürftigen Gedanken eines Heranwachsenden, dessen Wissen sich in Bauernkalenderweisheiten erschöpft.
Der Frischling Henry Fleming befragt Erfahrene. Man sagt ihm: „Die meisten ... werden kämpfen bis zum Umfallen ... Aber erst muss die Schießerei losgehen.“
Henry imaginiert Geister- und Gespensterkompanien, die durch Traumalleen ziehen. Er scheint im Traum eine besondere Verbindlichkeit zu erkennen. Das geht mir auch so, und zwar so sehr, dass ich gegen den Ansturm der inneren Bilder machtlos bin. Ich schreibe, was zu schreiben ich mir vorgenommen habe, und der Text kommt auch wie von göttlicher Handschrift, aber darunter arbeitet es. Deshalb mache ich jetzt kurzen Prozess und schiebe dazwischen, was jedem Zweifel widersteht. Ich bin gerade wieder an der Ostsee, wo man besonders gut schläft. Man schlummert in den Pantoffeln der Seligkeit nach einem Gang am nächtlichen Bodden. Und während ich nun schlief, träumte ich davon, dass die Corleone-Brüder mit ihrem Vater brütend in einem Haus zusammen waren, ohne einer weiblichen Verwandten oder auch nur einem Gefolgsmann befehlen zu können. Wir sehen also Marlon Brando, James Caan, Al Pacino und diesen dämlichen Fredo, der so intransigent blöd ist, dass ich seinen bürgerlichen Namen nachzugooglen mich weigere. So sorgenvoll wie malerisch lagern sie in schweren Möbeln, und mich kommt das Bedürfnis an, mich einzuschalten durchaus mit einer Autorität von der ich nicht weiß, woher ich sie habe. Kann ich mich mit dem Don messen? Selbst im Traum erkenne ich die Verwegenheit meines Leichtsinns. Doch dann öffnet sich eine Tür und ich stelle magisch fest, dass ich in keiner Schuld stehe und sogar den Corleones gegenüber nicht inferior bin. Vielmehr ist es so, dass der Pate meine Missbilligung nicht auf sich gemünzt wissen will. Bin ich gerade so bedeutend wie ein Kardinal Kennedy?
Ich könnte das jetzt ausmalen und sonst was erfinden. Doch sollte man der Traumwahrheit leichtfertig nichts hinzufügen.
Aufbruch
Henry verlängert unwesentlich eine gewaltige Schlange, die sich über Hügel zieht. Zum Kanon des 19. Jahrhunderts gehörten Kolportagen über die Varusschlacht. Crane beschreibt eine phantasmagorisch in die Länge gezogene Marschkolonne, die an jeder Stelle verwundbar ist und an keiner Stelle Sicherheit gewährt. So zogen die Legionen in ihr Verderben. Auch Henrys Farben werden in der kommenden Schlacht verderben; gegen den Lauf der Geschichte.
Wir haben eine doppelte Koinzidenz.
Die überlegenen Heerscharen der Union entsprechen den an sich überlegenen, doch vom deutschen Urwald extrem behinderten Römern, die von Arminius in eine Falle gelockt werden. Das ist noch lange kein Niedergangsauftakt für das Imperium. Es setzt aber dem römischen Expansionswillen in Germanien einen Grenzstein vor. Bis hierher und nicht weiter. Es zeigt, dass man die Überlegenheit des Feindes nicht in Frage stellen können muss, um ihn zu stoppen. Es reicht, wenn die Fortsetzung einer militärischen Penetration von jeder Bequemlichkeit abgeschnitten wird.
Das deutet Crane im Fortgang des Romangeschehens an. Die Expedition, an der Henry beteiligt ist, steht unter keinem guten Stern. Die Zeichen verheißen Unheil. Kurz gesagt, ich glaube, Crane hat das Scheitern des Varus seiner Geschichte unterfoliert.