Solange der Präsident nicht ausfällt, spielen die Ausfälle seines Stellvertreters keine Rolle. Die Binse kursiert als Washingtoner Allgemeinplatz, seit Daniel Webster 1840 so auf seine Nominierung reagierte:
„Ich habe nicht vor, mich beerdigen zu lassen, bevor ich tatsächlich gestorben bin und im Sarg liege.“
Dem Amt des US-amerikanischen Vizepräsidenten fehlt der Glanz. Schon Benjamin Franklin sprach von „Eurer Überflüssigen Exzellenz“. Ein ernsthafter Bedeutungszuwachs ergibt sich für den zweiten Mann im Staat nur dann, wenn sein Vorgesetzter im Amt stirbt. Das war bislang neun Mal der Fall. Im Übrigen blieb dem Vize nichts anderes übrig, als der Welt mächtigsten Person nicht ungefällig zu erscheinen. Als man Dwight Eisenhower um eine Quantifizierung der politischen Entscheidungen seines Stellvertreters Richard Nixon bat, entgegnete Old Ike: „Wenn Sie mir eine Woche Zeit geben, dann fällt mir vielleicht eine (Entscheidung) ein.“
Joe Biden, „Versprich es mir. Über Hoffnung am Rande des Abgrunds“, aus dem Amerikanischen von Henning Dedekind und Friedrich Pflüger, C.H. Beck Verlag, 250 Seiten, 22,-
Bei der Übergabe von Thomas Riley Marshall an Calvin Coolidge Anfang der 1920er Jahre sprach der Vorgänger dem Nachfolger „sein herzliches Beileid“ aus. Marshall beschrieb den Vizepräsidenten im Allgemeinen als einen „Mann mit einem kataleptischen Anfall. Er kann nicht sprechen; er kann sich nicht bewegen; er spürt keinen Schmerz; er nimmt zwar alles wahr, was um ihn herum vorgeht, hat aber keinen Anteil daran“.
Coolidge aka Silent Cal machte noch als Präsident Karriere, während Marshall als vorzeitig ergraute Eminenz hinter Woodrow Wilson so sehr in Vergessenheit geriet, dass die Frage nach Wilsons administrativem Schatten in der Zeit des Ersten Weltkriegs als Frage bei TV-Rateshows regelmäßig Ratlosigkeit auslöst.
Nelson Rockefeller beschrieb seine Arbeit als Entlastungsspieler im Weißen Haus so: „Ich gehe auf Beerdigungen. Ich besuche Erdbeben.“
Joe Biden öffnet den Anekdotenschatz vor den Augen seiner Leser*innen keinesfalls so verschlafen wie Trumps böse Zunge es behauptet. Sleepy Joe plaudert munter aus dem Nähkästchen der Macht. Nach fünfunddreißig Jahren als Senator stand Biden im Sommer 2008 vor der schwersten Entscheidung seiner beruflichen Laufbahn. Sollte er die Autonomie eines Abgeordneten mit keinem anderen Chef als dem eigenen Gewissen aufgeben, um sich in eine historische Umlaufbahn katapultieren zu lassen.
Oder doch besser nicht. Joe ringt mit sich, seine gerade neunzigjährige Mutter leuchtet ihm heim: Joe, mein Junge. Nein, das sagt sie nicht. Vielmehr sagt sie: „Die Sache liegt also so, Schatz: Der erste Afroamerikaner … der die Chance hat, Präsident zu werden, sagt, er brauche deine Hilfe, um zu gewinnen – und du hast Nein gesagt.“
Mamas Worte helfen Joe auf den rechten Weg. Er geht zu Barack und stellt sich zur Verfügung unter einer Bedingung: Bei jeder wichtigen Entscheidung, will er die letzte Ratgeberinstanz des Präsidenten sein.
Morgen mehr.
Aus der Ankündigung
Über Hoffnung am Rande des Abgrunds
Im November 2014 versammelten sich die Bidens in Nantucket, um gemeinsam Thanksgiving zu feiern - eine Familientradition seit vierzig Jahren. Aber diesmal fühlte sich alles ganz anders an. Bei Beau, dem ältesten Sohn von Joe Biden, war zuvor ein bösartiger Hirntumor diagnostiziert worden, und sein Überleben war ungewiss. «Versprich es mir», bat der kranke Sohn seinen Vater. «Versprich mir, dass du klarkommst, ganz egal, was passiert.» Joe Biden gab ihm sein Wort. Das darauffolgende Jahr stellte ihn auf eine schwere Probe. Der damalige Vizepräsident reiste mehr als hunderttausend Meilen quer durch die Welt und befasste sich mit schwierigen Krisen in der Ukraine, in Mittelamerika und im Irak. Während sein Sohn zu Hause um sein Leben kämpfte, das er schließlich verlor, musste Joe Biden sowohl der Verantwortung für sein Land als auch seinen familiären Pflichten gerecht werden. Bidens Memoir ist das Buch eines Politikers, aber mehr noch eines Vaters, Großvaters, Freundes und Ehemanns. Es ist eine Geschichte der Hoffnung am Rande des Abgrunds.