Sehr geehrte Damen und Herren,
das Buch, die Theateraufführungen und zuletzt die Fernsehausstrahlung von „GOTT“ von Ferdinand von Schirach haben zu vielen Gesprächen und Beiträgen über das Für und Wider zur legalen Beihilfe zum Suizid bei Leser*innen, Zuschauer*innen und in den Medien geführt. Und auch unter Medizinern, Juristen, Philosophen und Theologen ist die Diskussion neu entfacht.
Ich leite Ihnen als Diskussionsbeitrag die Antwort von Expert*innen auf einen offenen Brief an Ferdinand von Schirach weiter (siehe Anhang), auf den in einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Bezug genommen wurde. Bitte beachten Sie die Links auf den erwähnten Zeitungsartikel und den Brief an den Autor.
Anbei finden Sie eine Replik einer Gruppe von ExpertInnen aus den Bereichen Palliativmedizin, Recht und Ethik zum Offenen Brief an Ferdinand von Schirach, der in der FAZ vom 21.11. ausführlich besprochen wurde Mehr; der Wortlaut des Offenen Briefes ist hier abrufbar.
Für Rückfragen stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung (Kontaktadressen in der Anlage) und verbleiben mit besten Grüßen
Prof. Dr. Gian Domenico Borasio (Palliativmedizin, Univ. Lausanne)
Prof. Dr. Dr. Ralf Jox (Palliativmedizin und Ethik, Univ. Lausanne)
Prof. Dr. Reinhard Merkel (Jura, Univ. Hamburg)
Prof. Dr. Bettina Schöne-Seifert (Ethik, Univ. Münster)
Dr. Matthias Thöns (Palliativmedizin, Witten)
Prof. Dr. Bettina Schöne-Seifert
Lehrstuhl für Medizinethik
Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin,
Universität Münster
Von Esmarch-Str. 62
48149 Münster
Tel.: +49.251.83.55298
Fax: +49.251.83.55339
bseifert@uni-muenster.de
Replik auf den „Offenen Brief an Ferdinand von Schirach“ (FAZ vom 21.11.20)
Der Protestbrief einer kleinen Gruppe von Palliativmedizinern und Psychologen zum ARD-Film „GOTT“ von Ferdinand von Schirach, über den die FAZ am 21. November ausführlich berichtet hat, enthält eine bedauernswerte Reihe nachweislich unwahrer oder verzerrender Aussagen. Um zu verhindern, dass die Öffentlichkeit in dieser wichtigen und komplexen Frage in die Irre geführt wird, sehen wir uns veranlasst, diese Aussagen einem Faktencheck zu unterziehen.
Die Autoren sehen als den (vermeintlich skandalösen) Kern des Urteils des Bundesverfassungsgerichts, dass „alle Menschen, unabhängig von Alter und Leiden, einen Anspruch auf einen assistierten Suizid haben sollten“. Es werde also ein allgemeiner „Rechtsanspruch auf einen assistierten Suizid“ festgeschrieben. Diese Aussage ist unrichtig. Ein Anspruch ist sowohl ethisch als auch juristisch ein Recht, dem eine Leistungspflicht einer anderen Person entspricht. Ein solches Anspruchsrecht haben Patienten etwa auf eine umfassende Aufklärung vor einer medizinischen Behandlung. Bei der Suizidhilfe ist ein solches Anspruchsrecht vom Bundesverfassungsgericht hingegen ausdrücklich verneint worden. In Leitsatz 6 heißt es dazu: „Niemand kann verpflichtet werden, Suizidhilfe zu leisten.“ Unmissverständlich dann in der Urteilsbegründung (Rdnr. 289): „Aus dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben leitet sich kein Anspruch gegenüber Dritten darauf ab, bei einem Selbsttötungsvorhaben unterstützt zu werden.“ Möglicherweise haben die Autoren das Urteil schlicht unaufmerksam gelesen, denn schon in Leitsatz 1c heißt es: „Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird (sic), in Anspruch zu nehmen“. Hier wird zwar der Begriff „Anspruch“ verwendet, aber für einen anderen Inhalt: es geht um das Recht eines Menschen, eine Suizidhilfe, die ihm zur Verfügung gestellt wird, auch zu nutzen.
Die Autoren schreiben in Bezug auf das Stück Ferdinand von Schirachs: „Die Darstellung des Ärztekammervertreters in „Gott“ ist ein wenig aus der Zeit gefallen.“ Nun sind aber exakt dessen Argumente von realen Vertretern der Ärzteschaft während der letzten Jahre wiederholt vorgebracht worden. Und verletzende Aussagen wie die, man solle Suizidhilfe doch den „Klempner machen lassen“, wurden vom letzten Präsidenten der Bundesärzte-kammer und derzeitigen Weltärztebund-Präsidenten Montgomery in aller Öffentlichkeit geäußert. Zudem bemängeln die Briefautoren an der Figur im Stück „Die isolierte, um sein Ethos und sein Helfermotiv kreisende Haltung – also um sich selbst –, kann dann nur zur Eskalation führen.“ Genau solch eine Haltung aber haben manche Ärzte- und Palliativvertreter in den letzten Jahren mehrfach in der öffentlichen Debatte gezeigt. Der hier vorliegende Offene Brief ist dafür abermals ein beredtes Zeugnis.
Weiterhin heißt es im Offenen Brief in Bezug auf das Stück: „Diese Darstellung negiert und entwertet die Arbeit von tausenden in Deutschland tätigen Menschen, die als Mediziner, Psychiater, Psychologen, Palliativmediziner, Pflegekräfte, Seelsorger, Mitarbeiter von Hospizen, Krisendiensten und Beratungsstellen, der Polizei, Feuerwehr oder einfachehrenamtlich engagiert mit suizidalen Menschen zu tun haben.“ Das tut diese Darstellung keineswegs. Denn erstens kümmern sich diese Fachkräfte in der Regel um Menschen, die nicht-freiverantwortliche Suizidimpulse haben, während es hier ausschließlich um den freiverantwortlichen Suizidwunsch geht. Und zweitens bedeutet es nicht im mindesten die Entwertung einer beruflichen Tätigkeit, wenn man darüber spricht, wie mit Situationen umzugehen ist, in denen diese Tätigkeit an die Grenzen ihrer Wirksamkeit stößt. Was der Brief mit solchen Formulierungen bewirkt, ist eine unterschwellige Pathologisierung und Psychiatrisierung freiverantwortlicher Suizidwünsche und der dahinterstehenden Menschen.
Der Offene Brief spekuliert, dass die Bevölkerungsumfrage ein anderes Ergebnis gehabt hätte, wenn die Reihenfolge der im Stück sprechenden Protagonisten eine andere gewesen wäre. Diese Vermutung ist unbegründet. Sämtliche Repräsentativumfragen der letzten Jahre – egal von wem beauftragt und mit welchen Formulierungen – haben ergeben, dass eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung für die Legalisierung der Suizidhilfe ist, meist zwischen 60 und 80%. •Unter der Überschrift „Wie ist der aktuelle Stand der Wissenschaft zum assistierten Suizid wirklich?“ werden im Brief pure Spekulationen präsentiert. Ob die „Zulassung des assistierten Suizids“ die Suizidrate verringert (was im Schirach-Stück übrigens nirgends behauptet wird), wurde bisher nicht systematisch untersucht. In jedem Fall ist es unzulässig, dafür die Zahlen aus den Niederlanden heranzuziehen, wo die Suizidassistenz nur 3,5% der Sterbehilfefälle ausmacht, die überwiegende Mehrheit (96,5%) sind Tötungen auf Verlangen, die ethisch und rechtlich ganz anders zu bewerten sind. Es ist ebenfalls nichtuntersucht, ob die beklagenswerten gewaltsamen Formen des Suizids durch die Verfügbarkeit medizinisch begleiteter Ausführungsweisen reduziert werden könnten. In der Schweiz jedenfalls hat sich die Rate an Selbsttötungen durch Erhängen oder Erschießen vermindert, parallel zum Anstieg der Zahlen der Suizidhilfe. •Das Heraufbeschwören eines unweigerlich drohenden „Dammbruchs“ ist suggestive und unbegründete Angstmacherei. Wie vor allem das Beispiel der US-Bundesstaats Oregon zeigt, lässt sich der Zugang zu Suizidhilfe nachweislich so regeln, dass die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger geschützt werden und – im Unterschied zur Tötung auf Verlangen in den Niederlanden – keine sukzessive Ausweitung der Praxis z.B. auf nicht entscheidungsfähige Menschen stattfindet.
Dass in den Niederlanden und Belgien eine ursprüngliche Regelung des assistierten Suizids später um die Legalisierung der Tötung auf Verlangen erweitert worden sei, ist schlicht falsch. Sowohl die gesellschaftliche Debatte als auch die Gesetzgebung in beiden Ländern war von Anfang an auf die Legalisierung der Tötung auf Verlangen gerichtet. Dasselbe gilt nun auch für Kanada. In den Niederlanden ist der assistierte Suizid zahlenmäßig immer schon vernachlässigbar gewesen, in Belgien wurde er noch nicht einmal im Gesetz erwähnt. Es gibt kein einziges Land auf der Welt, in dem eine Regelung des assistierten Suizids im weiteren Verlauf zu einer Legalisierung der Tötung auf Verlangen geführt hätte.•Dass Ärztinnen und Ärzte in Deutschland sich nicht mehrheitlich für den assistierten Suizid aussprechen, ist zwar richtig, wird aber im Stück nirgends in Zweifel gezogen. Im Gegenteil: der Anwalt im Stück weist korrekt darauf hin, dass laut bisherigen Befragungen etwa ein Drittel der Ärzte die Legalisierung ärztlicher Suizidhilfe befürwortet. Dies wird zurecht als Ausdruck von Pluralität und Meinungsvielfalt innerhalb der Ärzteschaft gedeutet.•Der Offene Brief unterstellt am Ende, der Protagonist Herr Gärtner würde von den Ärzten erwarten, sein Leben als nicht mehr lebenswert zu betrachten, seine normative Position zu teilen und dies auch für alle anderen Menschen in derselben Situation zu tun. All dies ist grundfalsch. Weder Herr Gärtner noch der Anwalt noch irgendjemand in der aktuellen Debatte fordert, dass Ärzte zur Suizidhilfe verpflichtet werden sollen. Selbst dann, wenn ein Arzt sich aus freien Stücken entschließt, diese Hilfe zu leisten, muss er nicht notwendig die normative Position des Patienten teilen. Es kommt überhaupt nicht darauf an, ob ein Arzt das Leben des Betroffenen als lebenswert oder nicht lebenswert empfindet (vor einem solchen Lebenswerturteil von außen sollte er sich ohnehin hüten), sondern es kommt einzig darauf an, ob der Arzt die fundierte, wohlüberlegte Selbstbestimmung seines Patienten achtet oder nicht – und ob er es mit seinem eigenen Gewissen für vereinbar hält, diesem Menschen Suizidhilfe zu leisten. Zusammenfassend stellen wir fest: Ein derart mit Un- und Halbwahrheiten gespicktes Schriftstück ist für hochrangige Vertreter der deutschen und europäischen Palliativmedizin (Prof. Radbruch ist aktueller Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, Prof. Nauck war sein Vorgänger im Amt, Prof. Ostgathe ist aktueller Präsident der European Association for Palliative Care) ein Dokument der Peinlichkeit. Die Erschaffung alternativer Fakten zur Stützung der eigenen Weltanschauung greift gerade weltweit um sich. Die Palliativmediziner, die den FAZ-Brief unterzeichnet haben, sollten aufpassen, dass sie den Ruf der deutschen Palliativmedizin – und damit der großartigen Arbeit unzähliger Kolleginnen und Kollegen, die tagtäglich „an der Front“ schwerstkranke Patienten versorgen – nicht unnötig aufs Spiel setzen.
Unterzeichner (in alphabetischer Reihenfolge, fett gedruckte Namen stehen für Rückfragen zur Verfügung): Dr. Dietmar Beck (PM), Prof. Dieter Birnbacher (Philosoph), Prof. Gian Domenico Borasio (PM) < Borasio@chuv.ch>, Dr. Harald Braun (PM), Dr. Jörg Cuno (PM), Prof. Matthias Dose (Psychiater), Dr. Hans Dworzak (PM), Dr. Daniel Friedrich (Ethiker), Rita Gabler (PP), Prof. Eric Hilgendorf (Strafrechtler) <hilgendorf@jura.uni-wuerzburg.de>, Dr. Hans-Jörg Hilscher (PM), Dr. Ulrike Hofmeister (PM), Prof. Ralf Jox (Ethiker, PM)<ralf.jox@chuv.ch>, Andrea Klein (PM), Dr. Astrid Lueg (PM), Dr. Benedikt Matenaer (PM), Monika Mayer (PM), Prof. Reinhard Merkel (Jurist) <reinhard.merkel@jura.uni-hamburg.de>, Wolfgang Putz (Rechtsanwalt), Dr. Thomas Nolte (PM), Jörg Rebhan (PM), Dr. Jan-Ole Reichardt (Ethiker), Dr. Michael de Ridder (PM)<michael.deridder@t-online.de>, Dr. Peter Schmidkonz (PM), Prof. Bettina Schöne-Seifert (Ethikerin)<bseifert@uni-muenster.de>, Dr. Angelika Schramm (PM), Franziska Schröder (Psychotherapeutin), PD Dr. Marco Stier (Ethiker), Dr. Matthias Thöns (PM)<thoens@sapv.de> (*PM = Palliativmedizin, PP= Palliativpflege)