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2021-02-17 04:32:12, Jamal Tuschick

Stefan Zweig sieht im Judentum „Ferment und Bindung aller Nationen“. Das formuliert er 1917 in einer informellen Mitteilung, niedergedrückt von der Stupidität aller Kriegspropaganda. Stefan Litt überliefert eine Schätzung, nach der Zweig rund 25 000 Briefe und Postkarten geschrieben hat. Der Editor rechnet die Post in besonderer Weise zum Werk. Er wählte 120 Korrespondenzexponate an 43 Adressaten aus. „An erster Stelle wurden solche Briefe berücksichtigt, die ausführliche Passagen über verschiedene Aspekte und Probleme des Judentums enthalten.“

Stefan Zweig (1881–1942) war ein Akteur der Walter Benjamin-, Franz Kafka- und Gershom Scholem-Kohorte. Er gehörte zu den skeptischen Söhnen arriviert-assimilierter Gründerväter. Wohlstand wies ihnen einen Weg; Antisemitismus einen anderen. Zunächst ahnten sie mehr als sie verstanden, wie vergeblich und deshalb fatal der altvordere Anpassungsfuror war. Ihre Sicherheiten erwiesen sich als Irrtümer, die der Holocaust aufklärte.

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Judentum und Dichtung. Ein Tonfall des 19. Jahrhunderts klingt in diesem Verhältnis an. So hat man über die Aussichten in einem jüdisch-christlichen Abendland geredet, unter den Vorzeichen der Assimilation – erfasst und angehoben von der Aufklärung, deren Sonne allen scheinen sollte. Das Unbehagen an der Assimilation war schon ein Merkmal des Fin de Siècle. Während die Patriarchen noch ihre Zigarren mit den Flammen der Chanukka Kerzen in Brand setzten, ihre Kaiser Wilhelm Bärte wichsten und sich angekommen wähnten im Deutschen oder Habsburger Reich als Deutsche oder Österreicher jüdischen Glaubens, ahnten ihre Töchter und Söhne ein Scheitern des Projekts der jüdischen Selbstaufgabe. Sie wurden Zionisten und Kommunisten.

Stefan Zweig sieht im Judentum „Ferment und Bindung aller Nationen“. Das formuliert er 1917 in einer informellen Mitteilung, niedergedrückt von der Stupidität aller Kriegspropaganda. Stefan Litt überliefert eine Schätzung, nach der Zweig rund 25 000 Briefe und Postkarten geschrieben hat. Der Editor rechnet die Post in besonderer Weise zum Werk. Er wählte 120 Korrespondenzexponate an 43 Adressaten aus. „An erster Stelle wurden solche Briefe berücksichtigt, die ausführliche Passagen über verschiedene Aspekte und Probleme des Judentums enthalten.“

Litt folgt einer forschungsliterarisch bewährten Gliederung. Man unterscheidet „drei Leben“. Die Zeit von 1900 bis 1918. Den Ersten Weltkrieg überstand der Pazifist Zweig in einem Zustand bedrückter Gegnerschaft. In dieser Zeit schrieb er sich vor allem mit Martin Buber, Marek Scherlag, Abraham Schwadron Karl Emil Franzos und Emil Ludwig. Der zweite Abschnitt rahmt die Zeit von 1920 bis 1932. Schließlich folgen die Epistel der schweren Jahre von 1933 bis 1941.

„Die für diesen Zeitabschnitt zusammengestellten 72 Briefe befassen sich mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus, dem sich damit weltweit verstärkenden Antisemitismus.“

Wenn ich es richtig lese, reagiert Zweig verzögert, vielleicht sogar widerwillig auf Solidaritätsforderungen im Zusammenhang mit Pogromen und anderen Emanationen des Judenhasses. Wie Hannah Arendt, so empfindet Zweig, zumindest glaube ich das, die automatischen Zuschreibungen als Zumutungen. Der gut gestellte Bürger bequemt sich nachgerade dazu, so etwas wie eine jüdisch basierte Leidensgenossenschaft anzunehmen. Zweig erkennt nicht den Nutzen und die Notwendigkeit einer israelischen Wagenburg zur Sicherung des Überlebens. Zweig hält individuelle Manöver erst einmal für ausreichend.

In einem Brief an Abraham Schwadron vom April 1915 wringt er sich förmlich aus, um seinen persönlichen Abstand zu der galizischen Katastrophe zu verkleinern. Litt schreibt:

„Die schlimmen Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung im teilweise russisch besetzten Galizien führten Zweig zu einer gewissen Solidarisierung mit dem Schicksal der von dort vertriebenen Juden.“