Stefan Zweig (1881–1942) war ein Akteur der Walter Benjamin-, Franz Kafka- und Gershom Scholem-Kohorte. Er gehörte zu den skeptischen Söhnen arriviert-assimilierter Gründerväter. Wohlstand wies ihnen einen Weg; Antisemitismus einen anderen. Zunächst ahnten sie mehr als sie verstanden, wie vergeblich und deshalb fatal der altvordere Anpassungsfuror war. Ihre Sicherheiten erwiesen sich als Irrtümer, die der Holocaust aufklärte.
Mittelmächte versus Entente
Vorausschauend und hellsichtig diagnostiziert Stefan Zweig Antisemitismus als Verliererkrankheit. Bereits zu Beginn des Krieges sieht er Reaktionen der Mittelmächte auf die en passant prognostizierte Niederlage voraus.
Stefan Zweig, Briefe zum Judentum, herausgegeben von Stefan Litt, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 24,-
An Abraham Schwadron schreibt Zweig im Frühjahr 1915: „Ich bin fest überzeugt, dass die Erbitterung, die jetzt schon latent ist, nach dem Kriege sich nicht gegen die Kriegshetzer, die Reichspost-Partei, sondern gegen die Juden entladen wird.“
Zweig verweist auf ein Register innerjüdischer Konkurrenz. Felix Salten macht er zum Vorwurf: „Sein Zionismus war immer Privatsache – von seinen tausenden Artikeln hat nie einer das Wort enthalten Ich als Jude.“
Im Gegenzug fand Salten Zweig bei Gelegenheiten zu „germanenfreundlich“.
Im Sommer 1916 postuliert Zweig in einem Brief an Martin Buber, dass sich jeder „deutsche Autor jüdischen Ursprungs“ offenbaren müsse.
„Was die Stellung zum Judentum betrifft - wäre es nicht die Aufgabe gerade Ihrer Revue* in einer Art großzügigen Rundfrage von jedem deutschen Autor jüdischen Ursprungs ein Bekenntnis seiner Stellung zu verlangen?“
*„Der Jude“, herausgegeben von Martin Buber beim Jüdischen Verlag in Berlin, erschien 1916-1928.
Geistiges Jerusalem
Zweig gibt der Volksgemeinschaft als letztem Aufguss (vormals prächtiger gedachter) Kommunionen im Geist des Nationalismus keine Chance. Er stellt einen Zusammenhang her, den ich nicht auf meiner Liste hatte. „Die tschechische ... (und) die ungarische (Literatur) sind ... in gewissem Sinne Beispiele künstlicher Erweckung abgestorbener Sprachen durch einen nationalen Willen und vielleicht ...“
Auf das vielleicht komme ich gleich zurück.
Zweig fehlt der zionistische Drive. Für ihn ist Jerusalem ein Textland. Er fasst Israel metaphorisch auf. Umso bedrängender findet der vom Start an überaus erfolgreiche Autor die Anforderungen, die echte Leute und ihre Leiden mit sich bringen. Zweig dient in der Etappe, als er einen Kollegen so kritisiert: „Sie wecken das Interesse an (einer Figur), bauen (sie) auf und im Augenblick, wo wir (sie) fühlen, geben Sie (sie) auf.“
Judentum und Dichtung. Ein Tonfall des 19. Jahrhunderts klingt in diesem Verhältnis an. So hat man über die Aussichten in einem jüdisch-christlichen Abendland geredet, unter den Vorzeichen der Assimilation – erfasst und angehoben von der Aufklärung, deren Sonne allen scheinen sollte. Das Unbehagen an der Assimilation war schon ein Merkmal des Fin de Siècle. Während die Patriarchen noch ihre Zigarren mit den Flammen der Chanukka Kerzen in Brand setzten, ihre Kaiser Wilhelm Bärte wichsten und sich angekommen wähnten im Deutschen oder Habsburger Reich als Deutsche oder Österreicher jüdischen Glaubens, ahnten ihre Töchter und Söhne ein Scheitern des Projekts der jüdischen Selbstaufgabe. Sie wurden Zionisten und Kommunisten.
Stefan Zweig sieht im Judentum „Ferment und Bindung aller Nationen“. Das formuliert er 1917 in einer informellen Mitteilung, niedergedrückt von der Stupidität aller Kriegspropaganda. Stefan Litt überliefert eine Schätzung, nach der Zweig rund 25 000 Briefe und Postkarten geschrieben hat. Der Editor rechnet die Post in besonderer Weise zum Werk. Er wählte 120 Korrespondenzexponate an 43 Adressaten aus. „An erster Stelle wurden solche Briefe berücksichtigt, die ausführliche Passagen über verschiedene Aspekte und Probleme des Judentums enthalten.“