Sieben Schwierigkeiten und einer der immer schmaler werdenden Pfade
1 Die Geschichte mit der Herkunft.
1.1
Bin dafür, dass wir alle Leute mit reichen Eltern ein Jahr lang keine Romane veröffentlichen lassen und dann nochmal schauen, wie der Buchmarkt aussieht.
Tweet von Matthias Warkus, 12. Juni 2018, 352 Gefällt mir Angaben, 52 Retweets.
1.2
Man kann niemandem seine Herkunft vorwerfen.
Herkunft ist kein Kriterium literarischer Qualität.
1.3
Literatur entsteht hauptsächlich in einer bildungsbürgerlichen Mitte und das wird weiterhin so bleiben.
1.4
Autoren, die eine andere soziale Klasse als die ihrer Herkunft beschreiben, kennen sie häufig aus eigener Anschauung.
1.4.1
Autoren wie Hans Fallada oder später Jörg Fauser stammen aus Elternhäusern, in denen Bildung vermittelt wurde.
Es war ihre Drogensucht, die dazu geführt hat, dass sie sich in anderen Milieus bewegt und darüber geschrieben haben.
1.4.2
Ralf Rothmann stammt aus dem Arbeitermilieu, über das er viel geschrieben hat. Er ist einer der wenigen Autoren der letzten 100 Jahren, die aus dieser Schicht kamen und anerkannte Schriftsteller wurden, ohne dass ihnen der Nimbus des Proletenhaften, des Hoffnarren, des Anrüchigen anhaftete.
Autoren, die aufgrund von Tätowierungen, Hilfsarbeiten oder Hartz 4-Vergangenheit als Repräsentanten einer anderen Welt gelten, aber eigentlich aus Elternhäusern mit Bibliotheken stammen, halten wir uns immer wieder mal.
(„Wir“ meint in diesem Text nicht eine Gruppe von Personen, sondern Strukturen eines Betriebs, unabhängig davon, wer sie gerade am Leben hält oder gegen sie ankämpft.)
Vielleicht ist es ein Art Sidney-Poitier-Effekt. Man kann einem Schwarzen einen Oscar geben, um zu zeigen, dass man das ja auch tut. Und den Rest ignorieren.
1.5
Es braucht kein eigenes Erleben, um aus einem bestimmten Milieu zu berichten, doch es braucht eine Haltung. Empathie und Voyeurismus sind zwei mögliche. Dazu mehr bei 5.3.
1.6
Die Furcht vor dem Abstieg ist größer geworden in einer Welt, in der immer mehr von der Kaufkraft des Individuums abhängt, seinem Image und seinem Status.
Es hat in den letzten dreißig Jahren keinen deutschen Schriftsteller gegeben, der einen Wechsel in eine andere Schicht auch nur in Kauf genommen hätte. Wer heute drogensüchtig wird, berichtet von seinen Erlebnissen in einer Entzugsklinik in Beverly Hills.
Schlimmstenfalls bewegt man sich mit anderen akademischen Geringverdienern in der selbstgefälligen Prekariatsblase eines noch zu gentrifizierenden Viertels.
1.7
Sozialer Aufstieg ist schwer.
Sozialer Aufstieg in die Literatur, ohne Ghettoromantik zu bedienen, noch schwerer.
2 Die Geschichte mit der Normsprache.
2.1
Wir erwarten, dass jede Autorin die Normsprache beherrscht. Wir betrachten es als legitim, Jargon, Umgangssprache, Mundart und Ähnliches in literarischen Texten zu verwenden, setzen aber voraus, dass diese Mittel bewusst gewählt werden.
H.C. Artmann durfte in Mundart schreiben und mit der Sprache spielen, weil wir wissen, dass er Dudendeutsch konnte.
2.1.1
Das Etikett Gastarbeiterliteratur hat man Texten aufgeklebt, die wir als authentischen Versuch der Beschreibung einer Lebenswelt wahrgenommen haben, aber aufgrund mangelnder ästhetischer Qualität nicht so richtig der Literatur zurechnen wollten. Befindlichkeitsprosa ohne künstlerischen Mehrwert.
Deutsch war meist die zweite oder dritte Sprache dieser Autoren. Wie hätten sie mit jemandem konkurrieren können, dessen Muttersprache Deutsch war.