Klotzberger Erinnerungen
Trotzki und ich beobachten den neuen Tag an meinem Schlafzimmerfenster, das in grauer Vorzeit der Witwenkammerausguck meiner Großmutter war. Manchmal bilde ich mir ein, Niststellen eines antiken Geruchs wahrzunehmen; eine Ahnengrindanhaftung in Gebälkschrunden.
Der zweite Whisky war einer zu viel. Eine Überschreitung mit vorhersehbaren Folgen. Mir passiert das nicht mehr oft. Inzwischen kriege ich schon Kopfschmerzen, wenn ich nur daran denke, wie es war, in der verräucherten Theaterkantine zu sitzen, während einem die lieben Kolleg:innen ihren Nikotin- und Alkoholatem ins Gesicht bliesen. Fünf, sechs Bier und dann noch einen Schnaps und noch einen, und das Zigarettenpäckchen schon wieder leer; man zahlte am Tresen. Vor der Tür reduzierte uns die Kälte auf die klägliche Anzahl der Unentwegten.
In meinen Klotzberger Erinnerungen herrscht Frost in einem ewigen Winter. Man stampfte mit den Füßen, verschloss sich mit den eigenen Armen. Die nächste Kneipe lockte auf dem Weg zu einer Bude, deren Poesie sich vielleicht nur mir als privilegierter Tochter eines realsozialistischen Ministers erschloss.
Trotzki schnurrt auf der Fensterbank. Er spürt meine Not und erweist sich als Freund. Ja, ich habe mich hinreißen lassen und Woorius in der Nottingham Barn ein Nachtquartier bereitet. Ja, es gab einen Augenblick der befangenen Zuneigung. Zuneigung im Sinn von sich jemanden zuneigen. Man beugt sich vor und verliert das Gleichgewicht. Nein, nichts ist passiert. Aber zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich es freiwillig nicht unterlassen hätte, Woorius zu küssen. Bis sein Mund meine Lippen beinah berührte, war ich ausreichend reserviert. Seine unverfrorene Art hatte mich (so weit dann doch nicht) verschlossen. Ich weiß gerade nicht, wie ich meinem Gast unter die Augen treten soll.