Michelle Obama über ihre Kindheit
Sie denkt sich „Szenen aus, die für sie so echt sind wie das Leben selbst“. Ein Kinderkoffer dient als Puppenkleiderschrank. Die Puppen spielen Charakterrollen.
„Jeder Barbie und jedem G.I.-Joe wies ich einen bestimmten Charakter zu.“
Michelle Obama, „BECOMING – Erzählt für die nächste Generation“, aus dem Amerikanischen von Heike Brillmann-Ede, Harriet Fricke, Tanja Handels, Elke Link, Kristin Lohmann, Andrea O'Brien, Jan Schönherr, Henriette Zeltner-Shane, cbj, 604 Seiten, 20,-
Die Erzählerin bekennt sich zu einer „Pingeligkeit“, die es ihr nicht erlaubt, Schulfreundinnen nach Hause einzuladen. Sie sollen sich nämlich nicht an ihren Puppen zu schaffen machen. Von ihren Inspektionen anderer Kinderzimmer weiß Michelle, wie grauenhaft Barbies entstellt werden können. Manche habe mit Filzstift gemalte Tatoos im Gesicht. Die Erzählerin hält sich bedeckt und vermeidet den Engtanz des Wahnsinns auf dem Schulhof. In der verdichteten Unterschiedlichkeit des Klassenzimmers wächst Michelles Widerstand gegen Dutzendlösungen. Die Mutter fungiert als Klagemauer. Sie nimmt die kindliche Wut ernst und erkennt darin ein Derivat des überbordenden Ehrgeizes ihrer Tochter.
Pensionierter Pullman Porter
Michelle Obama schildert Spielräume in drangvoller Enge, ehrgeizige Fürsorge und spannungsreiche Zärtlichkeit im Sog unentwegten Strebens.
„Das Geräusch von Menschen, die sich bemühen, wurde zum Soundtrack unseres Lebens.“
Die meisten Menschen sind noch sehr jung und leisten als Klavierschüler:innen von Tante Robbie stolpernd ihren Beitrag zum Sound der Kindheit einer Tigerin auf dem Sprung. Robbies Mann arbeitet auf einer Nachtzuglinie als Pullman Porter. Die Tätigkeit wird „nur von Schwarzen Männer“ ausgeübt, die sich in „tadellos gepflegten Uniformen“ und theatralischen Dienerposen für nichts zu schade sein dürfen. Die Autorin streift die Auswirkungen einer Déformation professionnelle.
„Noch Jahre nach seiner Pensionierung lebte Terry in einem Zustand stumpfer Förmlichkeit.“
Ihren ersten Kuss organisiert sich Michelle am Telefon.
„Ich weiß nicht mehr, wer von uns beiden vorschlug ... das mit dem Küssen einmal auszuprobieren. Es war nichts Weltbewegendes oder besonders Erhebendes an dem Kuss, aber er machte Spaß.“
Michelle beginnt das Absitzen von Basketballspielen nicht mehr allein unter dem Gesichtspunkt geschwisterlicher Solidarität zu betrachten.
„Was war ein Court den anderes als ein Präsentierteller mit Jungs? Ich zog meine engsten Jeans an ...“
Gleichzeitig erlebt Michelle eine Entfremdung von allem Vertrauten mitten im Vertrauten. Die Erzählerin zieht etwas biografisch Heikles vor, dass sie nachträglich erst erfahren hat.
„Viel später erst erzählte mir meine Mutter, dass sie (es sich) ... gern in jedem Frühjahr durch den Kopf gehen ließ“, ihren Mann zu verlassen. Das ist eine Entlastungsphantasie, mit der die Heranwachsende natürlich nicht belastet wird.
Michelle erklärt die jahreszeitliche Einordnung der mütterlichen Gedankenflucht in jedem Frühjahr:
Die Chicagoer Winter sind hart. Michelle beschreibt den Himmel als eisengrauen Deckel, der zuklappt über der Stadt. Dann hat man hundert Tage Frostdepression am Stück.
"I'm from the south side of Chicago. That tells you as much about me as you need to know."
Sie verströmt Glück und Zuversicht. Ihre Performance liefert einen neuen Maßstab für Glamour. Ich schätze, ihr Name wird bald zum Begriff werden. Michelle als Synonym für das Maximum. Obama als ein anderes Wort für familiäres Gelingen.
Auf dem Feld der Erinnerungen gibt es nichts Belangloses. Mit dieser Behauptung steigt Michelle Obama ein. Sie bringt ein sentimentales Beispiel, bevor sie bekennt: „Wie der Eiskratzer auf einer Autoscheibe im tiefsten Chicagoer Winter klang“, habe in ihr eine breitere Spur gelegt als alle präsidial absolvierten „Bankette mit Staatsoberhäuptern“ im Weißen Haus.
„Während des Schreibens wurde mir klar, dass es keine Erinnerungen gibt, die zu unbedeutsam sind.“
Die Autorin mustert ihre Kindheit und Jugend. Sie erzählt von ihren Träumen und den ersten Emanationen ihres Ehrgeizes. Die Erzählmanier lädt ein und fordert auf. Ermutigung ist die Intension.
„Ich war oft die einzige Frau, die einzige Afroamerikanerin in den unterschiedlichsten Räumen.“
Zur Autorin
Michelle Robinson Obama war von 2009 bis 2017 die First Lady der Vereinigten Staaten von Amerika. Sie studierte an der Princeton University und an der Harvard Law School und begann ihre berufliche Laufbahn als Anwältin bei der Kanzlei Sidley & Austin in Chicago, wo sie ihren zukünftigen Ehemann Barack Obama kennenlernte. Später arbeitete sie im Büro des Bürgermeisters von Chicago, an der University of Chicago und am University of Chicago Medical Center. Michelle Obama gründete auch die Chicagoer Sektion von »Public Allies«, einer Organisation, die junge Menschen auf eine Laufbahn im öffentlichen Dienst vorbereitet.
Die Obamas leben derzeit in Washington, D.C. Sie haben zwei Töchter, Malia und Sasha.