Dana Grigorcea und ich sind uns einmal begegnet, in der Berliner Landesvertretung von Nordrhein-Westfalen. Es gab Brezeln und Bier und Spurenelemente westfälischer Schwerfälligkeit und Rheinländischen Leichtsinns. Ich fand die landsmannschaftliche Gravitation kurios. Man sah und hörte, wie schwer es den Repräsentant:innen fiel, das gegenderte Politidiom der Berliner Republik den persönlichen Hemdsärmlichkeiten anzupassen. Man spürte die Abwehr. Ein Referent sagt so vor sich hin:
„Europa erlaubt beides: Weltläufigkeit und Heimatliebe.“
Mit dem Satz scheiterte die Anpassung an Berliner Verhältnisse. Die Druckwellen der Bewegungs- und Hashtagpolitik haben die Landesvertretung noch nicht erreicht. Hier herrscht der linksrechts-liberale Konsens des letzten Jahrtausends.
Die Autorin des Abends verkörperte aber das geschmeidige Europa. Dana Grigorcea engagiert sich transnationale Bürgergesellschaft. Sie erzählte von ehrenamtlichen Künstler*inneneinsätzen in ihrem Flüchtlingshilfswerk in Zürich, wo die gebürtige Rumänin mit Familie lebt.
„Europa ist meine Flaniermeile“
Dem Auditorium in der Landesvertretung las Grigorcea aus „Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“ vor. Der Roman liefert der Niedergang des Warschauer Pakts erstaunliche Bilder. Der Eiserne Vorhang hebt sich vor den Augen der Lesenden noch einmal. Drei Jahre nach Ceausescus Exekution fliegt Michael Jackson ein. In Bukarest erwartet man ihn wie einen Engel der Erlösung. Michael Jackson nennt Bukarest Budapest. Man kann noch nicht mal sagen, dass er Rumänien mit Ungarn verwechselt, so oder so sagen ihm die Länder nichts. Aber die Heilserwartung der von Ceausescu Erlösten lässt sich nun nicht mehr auf Michael Jackson übertragen. Von Magie zu Maggi mit einem Versprecher.
So ging das den ganzen Abend. Grigorcea war eine Offenbarung. Sie löste alles ein, was man sich von einer Schriftstellerin in der Rolle der Unterhaltungsvirtuosin versprechen kann.
Vor ein paar Wochen schickte mir der Verlag die Fahnen ihres neuen Buches. Ich las den Roman am Tag der Sendung mit den geringsten Unterbrechungen aus dem Themenkreis des Unvermeidlichen. Sofort bat ich die Autorin um ein Interview. Das sie mir gewährte. Zuerst wenige Informationen zum Roman.
Dana Grigorcea, „Die nicht sterben“, Penguin Verlag, 22,-
Siehe auch Textland | Dana Grigorcea - Signatur eines kolossalen Niedergangs
„Verführung ist die wahre Gewalt“, sagt Schiller. Entsprechend ansehnlich erscheint Atanasie in der Arena; Ata für seine Freund:innen. Ata darf der Erzählerin nicht nur ungestraft in den Ausschnitt gucken. Vielmehr fördert sie das Interesse des Grandseigneurs mit dem Gebaren eines Landedelmannes. Das Christuskreuz in der Busenspalte hält Ata für ein Geschenk von ihm. Die Erzählerin wundert sich. Sollte der Einflussreiche alle Debütantinnen in seinem transsilvanischen Landkreis mit Kreuzen ausgestattet haben? Womöglich um im Auftrag einer größeren Macht den Nachwuchs vor dem draculären Verderben zu bewahren?
„Vielleicht hatte er einst allen Mädchen im Ort Kreuze geschenkt und erinnerte sich jetzt nicht mehr genau.“
Der Gepfählte
Eine Zeit nächtlicher Heimsuchungen bricht an. Die Erzählerin erwacht schweißgebadet und wähnt sich in Gesellschaft einer unbegreiflichen Person. Doch da ist niemand. Schließlich entdeckt sie die Leiche des gepfählten Traian Fifor. Die malerische Tötungsart ruft ein weltweites Interesse hervor.
Denn wer pfählt heutzutage denn noch?
P.S.
Sex für Anfänger:innen in zwei Sätzen
Er zu ihr: „Ich habe Ozeane der Zeit überquert, dich zu finden.“
Sie zu ihrem Tagebuch: „Er hat eine dunkle Seite, die ich unwiderstehlich finde.“
...
Nun also zu unserem Gespräch, mit einem Lob vorweg.
Lieber Jamal Tuschick
Ganz herzlichen Dank für die schönen Fragen!
Betongeschichtsschreibung
JT: Hat die vierzig Jahre währende Diktatur in Rumänien Dracula endgültig sterben lassen? So dass die Wiederauferstehung des Unsterblichen aka Untoten ein völlig neues Narrativ verlangt? Ich frage das deshalb, weil die Betongeschichtsschreibung des real existierenden Sozialismus die Mythenkraft auszulöschen versuchte. Was ihr gewiss nicht gelungen ist. Ich schätze, Nicolae Ceaușescu wird noch nicht einmal als Fußnote der Landesgeschichte verewigt werden. Was sind schon vierzig Jahre.
Dana Grigorcea: Die kommunistische Diktatur hat massenweise Bauern in Proletarier umgewandelt und ganze Dörfer samt ihrer Folklore plattgewalzt. Der Mythos Dracula ging dabei nicht unter – im Gegenteil: Ceausescu selbst wurde hinter vorgehaltener Hand Dracula, der Blutsauger genannt. Doch auch die Wende hat nicht jenes Licht gebracht, in dem Dracula zum Staub der Geschichte zerfallen würde. Der revanchistische Gestus der kommunistischen Nomenklatura findet sich auch bei jenen wieder, die sich als Freiheitskämpfer verstehen. Der unerbittliche Ton, mit dem z.B. Hertha Müller die Diktatur und auch ihre Mitläufer verurteilt, ist leider derselbe unerbittliche Ton der Diktatur. Und damit wird ein Geist hinübergerettet, was man eigentlich bekämpfen wollte.
Mythenkraft
JT: Heiner Müller sagt: „Antike Mythen sind frühe Formulierungen kollektiver Erfahrungen.“ Fühlen Sie die Rückkehr eines Kraftstroms aus alten Erzählungen und einer klandestinen Gewissheit, dass Dracula als Chiffre nicht nur Märchen, sondern auch Erfahrung bedeutet?
Dana Grigorcea: Natürlich: Dracula ist der mächtige Fürst der Finsternis, ein Gewaltherrscher, vor dem wir uns einst gefürchtet haben und nach dem sich manche von uns morbider Weise wieder sehnen. Dracula gehört in eine Welt, die übersichtlich war, mit stockdunkler Nacht und Tagesanbrüchen mit blendendem Licht. Die jetzige Welt, mit zu vielen Farben und Schattierungen, mit neuen Freiheiten und Rechten, die ja neuerdings auch für Minderheiten gelten, hat manche überfordert. Und plötzlich sehnen manche von uns die starke Hand zurück ...
Der Graf als Schrumpfversion
JT: Kann es sein, dass sich in Ceaușescus Irrweg ein unzulänglicher Graf D. hypostasiert hat?
Dana Grigorcea: Ich würde im Falle Ceaușescus nicht von einem Irrweg reden, sondern von einem Terrorregime – von einer absichtlichen und zielgerichteten Zerstörung der Zivilgesellschaft und jeglicher Gemeinschaft, die ihn und sein Regime hätten infrage stellen können. Er war Dracula, der Blutsauger seines eigenen Landes, zwar ein ehemaliger Schustergeselle, der kaum schreiben konnte und mit Grammatikfehlern sprach, aber mitnichten unzulänglich in seinem unheilvollen Machtgewebe. Seine Securitate verbreitete Angst und Schrecken.
Draculas heimliches Erbe
JT: Affiziert Sie Draculas Ausstrahlungskraft in einer Weise, die Sie höchstens ausnahmsweise anzusprechen bereit sind?
Dana Grigorcea: Draculas Ausstrahlungskraft affiziert mich nicht, auch nicht die Erotik der Macht.
Genetisches Erbe
JT: So wie nahezu alle Mongol:innen vom großen Khan abstammen, so könnte man oder eben nicht alle Transsilvanier:innen als Draculas Nachkommen bezeichnen?
Dana Grigorcea: Dracula wurde 1897 vom irischen Schriftsteller Bram Stoker geschaffen und dann gleich «trans silva», jenseits des Waldes, am Rande Europas platziert, sozusagen als Verkörperung der viktorianischen Angst vor einer umgekehrten Kolonialisierung. Er ist, wie Wilhelm Tell für die Schweizer und der Sirtaki-Tanz für die Griechen, ein importierter Mythos, mit dem man sich dann vor Ort auseinanderzusetzen hat. Mythische Nachtgestalten in der rumänischen Folklore waren bis Dracula nur jene Luftwesen, die Mädchen auf der Schwelle zum Frausein besuchten und derartiges mit ihnen trieben, dass die sich beim Erwachen, ermattet, gleich wieder nach der Nacht sehnten.
Bram Stoker aber gab an, seine Dracula-Figur sei eine ortsansässige, dem rumänischen Fürsten Vlad dem Pfähler angelehnt. Der mittelalterliche Fürst hatte tatsächlich auch den Beinamen Dracula getragen, nach dem Drachenorden, den sein Vater vom römisch-deutschen Kaiser bekommen hatte und an den Sohn weitervererbte. Der eingerollte Drache, den der Vater auch auf die Münzen hatte prägen lassen, war ein Symbol des Chaos auf unserer Erde, das sich durch Demut bändigen lässt. Dracula heisst auf rumänisch aber auch «des Teufels» - und tatsächlich sollte Vlad der Sohn ein Gerechtigkeitsfanatiker werden, der die vermeintlich Schuldigen sofort pfählen liess.
„Vlad III. (* um 1431 angeblich in Schäßburg (rumänisch Sighișoara); † um die Jahreswende 1476/1477) war 1448, 1456–1462 und 1476 Woiwode des Fürstentums Walachei. Sein Beiname Drăculea (deutsch „Der Sohn des Drachen“ von lateinisch draco – „Drache“) leitet sich nach der von (Historiker:innen) … akzeptierten These von der Mitgliedschaft des Vaters Vlad II. Dracul in Kaiser Sigismunds Drachenorden ab. Der Drache wurde auch im Woiwoden-Siegel geführt.“ Wikipedia
Bis auf den heutigen Tag wird Vlad der Pfähler in Rumänien als Held gefeiert, häufig mit einer Gedichtzeile heraufbeschwört: «Ach, Pfähler, Herrscher, kämst du doch, mit harter Hand zu richten!» Dass Menschen heutzutage, und nicht nur in Rumänien, wieder gestrengen Führerfiguren und anderen Extremisten huldigen, ist ein Thema, mit dem man sich aufs Neue auseinanderzusetzen hat.
Der Wesenskern
JT: Dracula ist die Fleisch gewordene Barriere des christlichen Abendlandes im Abwehrkampf gegen die islamische Expansion. Das ist der Wesenskern des Dracula-Mythos, meiner Meinung nach. Sehen Sie das auch so?
Dana Grigorcea: Vlad der Pfähler hat tatsächlich gegen die Türken gekämpft, und zwar gegen Mehmet II Abu al-Fatih, Vater der Eroberung, der Konstantinopel eingenommen hatte. Mit Mehmet ist er auch aufgewachsen, im Sultanspalast, wo ihn sein Vater als Treuepfand hinterlassen hatte. Als Kinder sollen sich die zwei sehr gut verstanden und oft zusammen gespielt haben, sie hatten dasselbe Alter. Später erbat sich Vlad die Unterstützung der Türken, um nach dem Tod seines Vaters dessen Thron zu besteigen, wurde aber hingehalten, so dass er sich an die Ungarn wandte, die mit den Türken verfeindet waren. Man kann daher nicht genau sagen, ob Vlad im Kampf mit den Türken die islamische Expansion aufhalten wollte. Er wollte sich vor allem auf dem Thron halten und keine fremde Herrschaft dulden. Zuweilen war er auch anti-katholisch. Aber auch mit seinen orthodoxen Untertanen ging er hart ins Gericht: jenen, die er als korrupt, ohne Rückgrat wähnte, gab er ein eisernes Rückgrat – den Pfahl! Mehmet soll seinen Kindheitsfreund für dessen spätere Unerbittlichkeit bewundert haben. Die Szene mit dem Sultan, der durch den Wald der Gepfählten reitet und über den grausamen Streich lachen muss, ist historisch verbürgt.
When you’re facing a loaded gun
Man hat etwas gebraucht, dass stärker war als ein sterblicher Potentat, um die ungeheure Bedrohung aus dem Morgenland mental zu bannen. Woher kam die Angst vor der Islamisierung? In Departed sagt Killerking Frank Costello zu dem ihn unterwandernden William „Billy“ Costigan: “When I was your age they would say we can become cops, or criminals. Today, what I’m saying to you is this: when you’re facing a loaded gun, what's the difference?”
Kann man nicht genauso einfach Muslim wie Christ sein*?
*Noel Malcolm behauptet: „In nur dürftig von Priestern versorgten ländlichen Gebieten war das Christentum (welcher Art auch immer) wahrscheinlich wenig mehr als eine Handvoll volkstümlicher Bräuche und Zeremonien, die zum Teil Geburt, Hochzeit und Tod betrafen, zum Teil Unglück abwehren, (von) Krankheiten heilen oder für gute Ernten sorgen sollten. Vom volkstümlichen Christentum zum volkstümlichen Islam war kein großer Schritt.“
Dana Grigorcea: Die Gefahr der Islamisierung ist ein Lieblingsthema der Populisten. Da kann man nur den Kopf schütteln, dass Chauvinismus und Rassismus, diese alten Geister der Vergangenheit, die wir längst begraben hatten, wieder aus dem Grabe kriechen und uns mit ihrer hässlichen Fratze heimsuchen.
Ich bin davon überzeugt, dass ein gläubiger Mensch – Christ, Muslim, Jude, Buddhist usw. – moderat ist. Der Kampf im Glauben, der Djihad, ist ein innerer Kampf gegen das Böse in sich selbst. Der Drache des Heiligen Georg ist der innere Drache, die eigene Angst, der Zweifel, das Richten über die Anderen. Der Drachenorden, dem Vlad der Pfähler angehörte, hatte als Wappen einen demütig eingerollten Drachen, über dem ein Kreuz prangte, auf dessen waagerechtem Balken "O wie barmherzig ist Gott" und auf dem senkrechten "gerecht und fromm" stand. Der Träger sollte also, nach dem Vorbild Gottes, barmherzig sein mit dem ihm anvertrauten Volk.
Vlad Dracula sah in seinem Gerechtigkeitswahn immer nur die anderen – tatsächlich wie ein Vampir, der sich selbst nicht im Spiegel sieht.
Den Blick im Spiegel thematisiere ich auch im Zusammenhang mit der Kunst, mit dem Selbstporträt der Malerin, dessen Blick im Spiegel den Betrachter zum Nachdenken über sich selbst anregt. Auch die Kunst erzieht zur Empathie …
Doppelter Exorzismus
JT: Der Dracula Mythos birgt einen doppelten Exorzismus. Dracula dynamisiert sich auf einem Kurs der Brutalisierung, um zu verhindern, dass sich etwas ändert. Er pfählt eine Stagnation herbei. Ich finde, diese Verholzung ist typisch wie jede restaurative Phase. Trotzdem steckt jede Menge Vitalität in der Dracula-Saga. Erkennen Sie auch diesen Widerspruch?
Dana Grigorcea: Bram Stoker hat ein schönes Bild für diesen Widerspruch: ein ins Wasser geworfener Stein sinkt zum Grund, während die Wellenringe immer grösser werden.
Eine ähnliche Szene hat mich zum Buch inspiriert: Ich war in Seattle, spazierte an der Elliott Bay und sah, wie ein Mann für seinen Hund Steine ins Wasser warf. Der Hund schwamm hin und her, verwirrt, weil das Geworfene, das er apportieren wollte, sofort sank. Vorbeigehende lachten, riefen: "it's awsome". Und in meinem Roman tut die Erzählerin das, was ich damals in Seattle hätte tun müssen, sie nimmt ein Stöckchen auf und wirft es dem Hund zu.
Verdeckte Identitätsbegriffsbildung
JT: Ist die Beschäftigung mit dem Mythos in Form einer Erweiterung des Spektrums, wie man über Dracula reden kann, eine Rückversicherung im Hinblick auf die eigene Biografie, also so etwas wie verschleierte Identitätspolitik?
Dana Grigorcea: Nein. Alles Biographische ist bei mir bloss literarische Behauptung, ein Augenzwinkern an die Leserinnen und Leser. Ich lasse Dracula zwar da, wo man ihn vermutet, also trans silva, aber Dracula ist längst hier, unter uns – bei der AfD, bei den Querdenkern, überall, wo es Radikale gibt.