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2021-04-01 04:54:19, Jamal Tuschick

Byzantinischer Kulturpool

Sehen Sie ferner: Textland | Richard Schuberth - Aristokratische Euro-Gang

Was zuvor festgestellt wurde

Schuberths analytische Erzählung entfaltet einen wunderbar starken Sog. Dem Autor dient Lord Byron als Kulminationspunkt epochaler Ideen und Irrtümer.

Richard Schuberth, „Lord Byrons letzte Fahrt. Eine Geschichte des Griechischen Unabhängigkeitskrieges“, Wallstein Verlag, 29,90 Euro

Ihm geht es nicht um die aristokratische Euro-Gang erlesenheitssüchtiger Ästhet:innen des Krieges. Nicht auf hält er sich mit jenen malerisch verkleideten Akteuren, die zwischen Scharmützeln mit dem Schmauch an ihren Fingern Skizzen von Wolken- über Felsreliefformationen anfertigten.

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„Die Flinte ist mein Pascha und mein Säbel mein Wesir.“ Aus einem Räuberlied

Der Osmanische Reichskahn krängt längst dem sprichwörtlichen Invaliden am Bosporus entgegen, als der Volksaufstand ohne Nationalbewusstsein losgeht. Das Gros der Aufständischen weiß nichts von Griechenland. Folglich fehlt den im Herrschaftsverständnis marodierenden Land- und Seeleuten der patriotische Impuls. Die Symbolpolitik im Rahmen der griechischen Fahnenweihe am 25. März 1821 im Kloster Agia Lavra ist ein elitäres Schwelgen im kleinen Kreis um den Metropoliten Germanos von Patras.

Schuberth führt aus: Die Empörten widersetzen sich nicht der „Despotie einer Zentralmacht“. Sie leiden unter „der Anarchie eines erodierenden Großreiches“.

„Die Griechische Revolution (1821–1829), auch Griechischer Aufstand oder Griechischer Unabhängigkeitskrieg genannt, bezeichnet den Kampf der Griechen gegen die Herrschaft der Osmanen und für eine unabhängige griechische Republik. Das Bestreben nach Unabhängigkeit wurde zunächst vor allem aus taktischen Gründen von den Großmächten Frankreich, Großbritannien und Russland unterstützt. Der 25. März 1821 markiert den Beginn der griechischen Revolution und ist Nationalfeiertag in Griechenland.“ Wikipedia

Byzantinischer Kulturpool

Schuberth erklärt überzeugend, wie es dazu kam, dass ein Gebiet im ehedem oströmischen Reich, das Jahrhunderte osmanisch gestempelt war, zum Sehnsuchtsort eben auch der Deutschen wurde. Die Hellenisierung des neuzeitlichen Griechenlands (als einer geografisch höchst ungefähren Größe) ergab sich auch im Zug einer „antifeudalen Transformation“. Im Verein mit allen möglichen Idealisierungen führte man die antike Agora-Demokratie in den bürgerlichen Begriffskranz ein.

Man ver-dichtete verschiedene ethnische Gruppen zu einem Volk (dem mythisch überhöhten Volk der Griechen). Es regierte die Fremdzuschreibung in einer Kombination mit neuen, nämlich nationalstaatlichen Ideen. Die Ideen tauchten in irregulären Blutbädern, bis sie in der bürgerlichen DNA des 19. Jahrhunderts soweit verankert waren, das sie staatstragend wirkten und reguläre Truppen mental mobilisierten.

Bis dahin begegneten sich Konfessionsgemeinschaften und (einer Herrschaft gemeinsam) Unterworfene nicht unbedingt mit der Vorstellung, in einem ethnischen Definitionsrahmen zum Schulterschluss aufgerufen zu sein.

Wie entstanden aus Sprachgemeinschaften Schicksalsverbände?

Dieser Frage geht Schuberth nach. In seiner Auslegung gab es keine ethnische Kontinuität und Geschlossenheit in den Innovationsprozessen auf jenem Territorium, das westliche Beobachter:innen als die Wiege der abendländischen Kultur feierten. Aufsteiger:innen und Spitzenreiter:innen wechselten sich ab, ohne je aus dem byzantinischen Kulturpool zu schöpfen. Echte Griech:innen fand man allenfalls noch als migrantisch Versprengte auf Sizilien.

„Sie stellten unmittelbare Nachkommen der altgriechischen (Siedler:innen) beziehungsweise hellenisierter Menschen und byzantinischer Griechen dar ... Pontosgriechen hatten mit ihren lazischen (also Georgisch sprechenden) und türkischen (Nachbar:innen) mehr gemeinsam als mit den europäischen (Griech:innen).“

Antifeudale Transformation

Die Hellenisierung des neuzeitlichen Griechenlands (als einer geografisch höchst ungefähren Größe) ergab sich auch im Zug einer „antifeudalen Transformation“. Im Verein mit allen möglichen Idealisierungen führte man die antike Agora-Demokratie in den bürgerlichen Begriffskranz ein.

“If I am fool, it is, at least, a doubting one; and I envy no one the certainty of his self-approved wisdom.” Lord Byron

„Justum necare reges Italiae.“ Wahlspruch der Carbonari - Zum Kontext: Byrons Geliebte Teresa Guiccioli gehörte dem Geheimbund an.

“A fearful hope was all the world contain’d”

Eingebetteter Medieninhalt

In den Romanen der Historiker:innen fließen die Flüsse zu den Quellen. Die Erzähler:innen der Geschichte glauben etwas zu sehen und führen es auf etwas zurück, was sie noch nicht einmal zu sehen glauben. In meiner Kindheit war Kolumbus ein großer Held der alten Welt, soweit sie begreifbar schien als Post-Antike. Griechenland war vollkommen gewesen und Rom mächtig. Der Niedergang des Imperiums signierte den allgemeinen Verfall. Das Christentum zwang die Menschheit von den Füßen auf die Knie. Wir wurden demütig und zu blöd, um Viadukte und Fußbodenheizungen zu bauen. Alles Miese florierte. Dann kam die Renaissance und mit ihr die Entdeckung der Neuen Welt. Chefentdecker war Kolumbus, in dem wir heute zu Recht den größten Verbrecher seiner Zeit und einen Kandidaten für die ewige Most-Wanted-Liste erkennen. Der Kolonialismus ist ein Jahrtausendverbrechen. Heiner Müller sagt: „Der Skandal des Holocausts besteht darin, dass er in Europa stattfand.“

Die Neuzeit begann mit der Pest (Egon Friedell). Sie mündete in der Aufklärung. Es folgte die Romantik. Mit ihr tritt Lord Byron in die Arena. Zu seiner „Ehrenrettung“, so Richard Schuberth in Lord Byrons letzte Fahrt. Eine Geschichte des Griechischen Unabhängigkeitskrieges, sei festzustellen, dass das Idol im Gegensatz zu seinen Fans wusste, wie närrisch es sich aufführte.

„Byron, das sei zur Ehrenrettung dieses noblen Narren vorausgeschickt, war sich seiner Lächerlichkeit wohl bewusst, und nur wenige derer, die seine Zerrissenheit bewunderten und imitierten, kannten die widerstrebenden Kräfte, die in ihm rumorten.“

Seine Klugheit erhebt sich zur „Unzeit“. Der Romantiker lässt sich (mit voller Einsicht in die Gefahren der Leidenschaft) hinreißen. Er kapituliert vor seinem Überschwang und erklärt sich selbst für unfähig, sobald es darum geht, genug Vernunft walten zu lassen, um notfalls noch an ein rettendes Ufer zu gelangen.

Die Sinnlosigkeit seines Unterfangens offenbart sich ihm vor dessen Anfang an einem Freitag, den Dreizehnten, im Hafen von Genua nicht erst. Der Erzähler kennt das Wetter. Es ist „ein schwüler, heißer Tag, kein Lüftchen regt sich ... Byron will seinen notorischen Aberglauben mit Paradoxie austricksen“.

Schuberth zeigt einen desolaten Helden; müde vom Vergnügen, des Schreibens überdrüssig; dem eigenen Tatendrang misstrauend. Eine Entzauberung bahnt sich an. Da bricht kein Schwärmer auf/den Griechen unter die Unabhängigkeitsarme zu greifen. Egal sei ihm, so sein Deuter, der Kampfgrund. Hauptsache Krieg.

Nach Jahren der italienischen Eintönigkeit fesselt eine militärische Laufbahn Byrons Phantasie. Hier schließt sich ein Kolumbuskreis der vermindernden Neubewertung. Schuberth verweigert Byron den Rang eines Freiheitskämpfers in vorbildlicher Vorwegnahme des Internationalen Brigadisten.

„Die Ziele seines selbsttherapeutischen Tatendrangs schienen austauschbar zu sein.“

Schuberths Erzählung entfaltet einen wunderbar starken Sog. Dem Autor dient Lord Byron als Kulminationspunkt epochaler Ideen und Irrtümer. Schuberth geht es nicht um die aristokratische Euro-Gang erlesenheitssüchtiger Ästhet:innen des Krieges. Er kümmert sich nicht um jene malerisch verkleideten Akteure, die zwischen Scharmützeln mit dem Schmauch an ihren Fingern Skizzen von Wolken- über Felsreliefformationen anfertigten.

Aus der Ankündigung

Der Aufstand gegen das Osmanische Reich und die Geburt der griechischen Nation - erzählt als Tragikomödie.

Der Griechische Unabhängigkeitskrieg (1821-29): eine Rebellion, bei der nichts so war, wie es schien. Er zog tausende Philhellenen aus allen Teilen Europas an: Schwärmer, Narren, Hochstapler, Gauner, Idealisten - unter ihnen der Dichter Lord Byron. Vor Ort zerschellten ihre Illusionen an der griechischen Realität: Der »Freiheitskampf« wurde von Banditenbanden, Warlords und Großgrundbesitzern geführt, die muslimische und jüdische Bevölkerung wurde in den ersten Kriegsmonaten ermordet oder vertrieben, die Osmanen verwalteten lediglich ihr erodierendes Reich und die britischen Kreditgeber agierten als eigennützige Spekulanten. Richard Schuberth erzählt die Geschichte des Krieges in scharfer Abkehr von nationalen Deutungen - als epische Tragikomödie, die vor allem zu unvorstellbarem Leid der Bevölkerung führte. Seine Studie zeigt die verschiedenen Facetten des Krieges und seiner Protagonisten auf und deutet den Konflikt als »Nabelbruch der Moderne«, in dessen Verlauf viele Topoi und Ideologien unserer Zeit ihren Auftritt hatten: Seien es Medienpropaganda, Orientalismus oder Nationalismus.

Richard Schuberth, geb. 1968 in Ybbs an der Donau, studierte Kulturanthropologie, Philosophie, Psychologie und Geschichte in Wien. Er verfasste Romane, Komödien, Essays, Aphorismen, Lyrik, Songs, Dreh- und Sachbücher. Veröffentlichungen u. a.: Bus nach Bingöl (2020); Narzissmus und Konformität (2018); Karl Kraus - 30 und drei Anstiftungen (2016); Bevor die Völker wussten, dass sie welche sind (2015); Chronik einer fröhlichen Verschwörung (2015).