Die Hand der jugendlichen Mutter ist „rau wie altes Holz“. Ihre Liebe erschöpft sich in einer Abwandlung des Stillens. Zu seiner Stärkung erhält der Sohn „die lauwarme Milch vom ersten Melken am Morgen“ im Gloom einer gleichermaßen archaischen und dürftigen Praxis. Der Berghof wirft nur das Nötigste ab. Mit dem Schaumbart startet Hermann Huber seinen Schulmarsch, der sich über eine Stunde hinzieht. Unterwegs schließt sich ihm Sepp (dem Hermann bald übel mitspielen wird) und Paul an.
Im Roman bricht der Tag als Erinnerung an.
Francesca Melandri, „Eva schläft“, Roman, aus dem Italienischen von Bruno Genzler, Verlag Klaus Wagenbach, 432 Seiten, 15,90 Euro
Den Anfang datieren zwei historische Großereignis: eine Übereinkunft von außerordentlicher Tragweite und eine Pandemie. Die Autorin erwähnt den Staatsvertrag von Saint-Germain-en-Laye, der am 10. September 1919 im Schloss der Gemeinde im Département Yvelines unterzeichnet wird. Die Vereinbarung regelt unter anderem die Abtrennung Tirols von Österreich-Ungarn zugunsten des italienischen Königreichs.
„Die Südtiroler (sind) deutschsprachig und (fühlen) sich ... vollkommen heimisch in der österreichischen Donaumonarchie.“
In der der Nacht vom 10. auf den 11. September fallen Hermanns Eltern der Spanischen Grippe im Abstand von drei Stunden zum Opfer. Hermanns älterer Bruder Hans übernimmt das kleine, an einem Steilhang gelegene Anwesen mit allen Rechten des Alleinerben. Drei ältere Schwestern unterwerfen sich den Regimes ihrer Schwiegereltern.
Jeder Starkregen spült die Krume vom Acker. Die Erde muss in Bastkörben aufgelesen und zurückgetragen werden.
Armani statt Armut
Jahrzehnte später kommt die Erzählerin auf Umwegen auf die kargen Verhältnisse in der Grauzone des I. Weltkriegs zu sprechen. Hermann Hubers Enkelin trägt Armani und geht einer weltläufigen Beschäftigung nach. Der Kontrast könnte nicht drastischer ausfallen. Trotzdem stammen Evas Referenzen aus der Bergwelt der Ahnen. Sie hat sich nie daraus verabschiedet. Ihre Wege führen von Überall in ein Tiroler Tal. Da besucht sie auch jener verheiratete Mann, der seit elf Jahren ihr Liebhaber ist.
Eva resümiert bündig das schrecklichste Kapitel ihrer Heimat. Mussolinis Pläne für Südtirol sahen eine lückenlose Romanisierung der Gegend bis zum Brenner vor. Die Leute sollten nicht einmal mehr privat Deutsch sprechen dürfen. Einheimische, für die eine so drastische Italianisierung nicht in Frage kam, durften für das Großdeutsche Reich optieren. Sie wanderten aus, bis der Krieg ausbrach, und die Regelung vergessen wurde. Deshalb blieben viele Migrationswillige an Ort und Stelle. Nach dem Krieg begrüßten sie dann die Zurückkehrenden als Verräter:innen. Die geschlagenen Optanten fanden ihre Häuser und Höfe von Italienern besetzt. Sie ballten sich in einer Art Slum, dem Schanghai aka Revolverviertel aka der Hungerburg. Da wuchs Eva Mutter Gerda unter den Vorzeichen der Ächtung auf. Ihr Vater war als einer der übelsten Faschos, ein Mann fürs Grobe, der mit seiner Scheiße Geschichte schrieb.
„Er beschmierte mit seinen Exkrementen die Türpfosten jener Hofbesitzer, die nicht fortzuziehen gewillt waren“; seinem Klassenkameraden Sepp halb er mit Gewalt auf die Sprünge.
„Sepp überlebte den Überfall.“
Daran rührt keiner mehr in der Gegenwart nach Fünfundvierzig. Zu viele haben Dreck am Stecken, und schließlich muss es weitergehen.
Aus der Ankündigung
»Nur einmal in ihrem Leben konnte sich meine Mutter Gerda der Liebe eines Mannes gewiss sein, und ich der eines Vaters. All die anderen kamen und gingen wie ein Wolkenbruch im Sommer.«
Eva ist Anfang vierzig, als sie einen Anruf von dem Mann erhält, der in ihrer Kindheit eine Zeitlang die Rolle des Vaters einnahm, bevor er scheinbar für immer verschwand: Vito Anania. Er liegt im Sterben und möchte Eva noch einmal sehen. Sie reist mit dem Zug von Südtirol quer durch Italien in den äußersten Süden.
In ihrer Vorstellung entfaltet sich ihre ganze Kindheit in Südtirol: Sie wuchs im Schatten der politischen Verwerfungen einer Region auf, die drei Jahrzehnte lang der Spielball bedrohlicher Allianzen war und dann endlich den Aufbruch in die Autonomie wagte. Doch noch stärker wurde Evas Kindheit geprägt von der Liebe ihrer Mutter, der im Leben nichts geschenkt wurde.
Der Roman einer Provinz ohne Vaterland und eines Mädchens ohne Vater.
Noch auf der letzten Schwelle hält sich Attilio Profeti für unsterblich. Dass hat er sich mit neun geschworen: Alle (werden sterben) außer mir. Aus diesem Trotz ergibt sich der Titel. Doch nähert sich der Aufstand gegen die irdische Endlichkeit seinem ewigen Ende. Francesca Melandri verkündet den Tod des römischen Patriarchen in einem Vorgriff. Profeti lebt noch, vermindert von Gedächtnisverlusten, als bei seiner Tochter Ilaria der Äthiopier Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti aufkreuzt und behauptet, ein Enkel ihres Vaters zu sein. Der neue Neffe erscheint als Flüchtling. Hinter ihm liegt eine unfassbare Leidensstrecke.
Francesca Melandri, „Alle, außer mir“, Roman, aus dem Italienischen von Esther Hansen, Wagenbach, 608 Seiten, 26,-
Attilaprofeti passierte die Sahara auf einer Schlepperroute. Er überwand „Sandgrenzen, die die koloniale Geopolitik mit unsichtbarer Tinte gezogen hat“. In Libyen erlebte er den Höllenkreis gnadenloser Gefangenschaft – ein Martyrium auf Kaskaden der Agonie. Eines Tages öffnen sich Türen und Tore und die Sonnenfaust der Freiheit trifft Attilaprofeti gemeinsam mit den Hieben der Soldaten, die das Konzentrationslager räumen. Die auf die Straße Geprügelten sind „unrein wie Schweine“. Sie verdienen nur „Schläge und Verachtung“.
Erst Jahre später begreift Attilaprofeti den Grund seiner Entlassung.
Der Tante begegnet er an dem Tag, als der italienische Staatschef Muammar al-Gaddafi in Rom empfängt und so den Wüstendiktator aufwertet. Es geht um Gas und Öl. Zum Deal gehört die temporäre Schließung der übelsten libyschen Kerker. Silvio Berlusconi steht an der Spitze einer Pyramide der Korruption. Die Mafia hat den Staat übernommen. Berlusconi verschleiert kaum, dass er sich als Erbe Mussolinis sieht. In der Beletage ist der Faschismus salonfähig.
Ilaria, links, ledig, Lehrerin, eine Bastion des Widerstands gegen die Krypo-Faschisten an der Macht, liebt mit erfüllter Leidenschaft einen Gefolgsmann Berlusconis. Ein Anruf des Abgeordneten kann Karrieren starten und beenden. Er ist ein Objekt der Begierden in einer verfilzten Gesellschaft. Ein Bruch und Plunder der Beliebigkeit verstellt alle Wege zur Integrität.
Das beschreibt Francesca Melandri als Begleitgeschehen einer Odyssee. Nach der afrikanischen Logik zählt Attilaprofeti zu den Siegern. Er hat die Wüste und das Gefängnis überlebt und ist auf dem Seeweg nach Europa weder ertrunken noch verdurstet. Nun raten ihm Auguren der prekären Migration, sich als Somalier auszugeben und die Erstaufnahmeeinrichtung von Siracusa aufzusuchen. Da wird Attilaprofeti abgelehnt. Melandri schildert den Elendsgang im Stakkato.
In Ilarias Familiengeschichte jagen sich späte Offenbarungen. Die Tochter eines Bigamisten erfuhr erst mit sechzehn von einem Halbbruder. Das Produkt eines Doppellebens ist inzwischen ihr Nachbar. Attilaprofetis Vater kann nur noch postum in der Geschwisterreihe seinen Platz zugewiesen bekommen. Der „halbafrikanische Sohn“ war Attilio Profetis Erstgeborener. Ein bekennender Rassist und glühender Freiwilliger im Kolonialdienst zeugte ihn.
Attilio Profeti führte ein Leben ohne Reue. In der Blüte seiner Jahre war er so korrupt wie alle, die es in seinem Milieu zu etwas gebracht haben. Daraus ergibt sich ein besonderer Blick auf Durchstechereien – die italienische Perspektive. Da, wo sie sich mit der afrikanischen Logik trifft, entsteht ein Schaufenster der Zukunft. Ohne die Exploitationskampagnen seit den westindischen Abenteuern des Kolumbus wäre Europa zu schwach, um auch nur eine Grenze zu halten. Die alten Kolonialreiche erheben als Demokratien weiterhin Anspruch auf Überlegenheit. Sie wollen, so sagt es Patrick Chamoiseau, „Elend, Terror und Armut“ an einem anderen Ende der Welt „anpflocken“. Jahrhundertelang konnten sie vom Youth Bulge über die Lohnkosten und den Müll bis zu ihren Schwerverbrechern Belastungen exportieren und sonst wo vergesellschaften. Jetzt kommt die koloniale Verwüstung Afrikas in Europa an.