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2021-05-28 05:19:08, Jamal Tuschick

Somnambule Ich-Doublette

Volker Braun zieht die Summe seiner Beobachtungen in den Zeiten der Pandemie

„Ausschreitungen auf dem Papier“

Am 10. Mai erschien außer der Reihe:

Volker Braun, „Große Fuge“, Gedichte, Suhrkamp, 54 Seiten, 16,-

Der Dichter zieht die Summe seiner Beobachtungen in den Zeiten der Pandemie. Im Vorspann verkündet er: Ein Geist treibt sein Wesen an Bord des dümpelnden Menschheitskahns.

Brauns lyrischer Fährmann nennt Brecht einen „banal denkenden und mittelmäßigen Schriftsteller“, siehe „K wie Kertész“. Im Weiteren stellt das mäandernde Ich fest: „Richtig gelebt/ Hab ich bis 1989“.

Die zweite Behauptung lädt zu ihrer Erforschung ein.

Ein Wachtraum eröffnet die poetische Anamnese einer Krise, die anhält.

„Seit langem träume ich nicht, das ist ein schlechtes Zeichen (: ich arbeite auch nachts nicht), ich habe das Unterbewußtsein verloren, Genossen, kein Homeoffice im Schlaf, die gewohnte Schwarzarbeit.“

Ein somnambules Ich destilliert einen Weltaugenblick, in dem er „schweißnaß ... die kahle Stelle am Kopf gegen die Wand“ drückt. Verdichtet ein Delirium erinnerte Eindrücke? Versammelt der Text Erkenntnisse eines Irrlichts? Der Weisheit letzter Schluss soll sein: nur noch für die Ungewissheit auf die Straße zu gehen.

Vergilbte Revolutionsromantik

Die Stadt ist ruhiggestellt/ wie ein Pestpatient/ Ein Morgenfrieden bis Mitternacht/ Entmenschte Straßen wie befreit/ von der Krätze/ der Kunden

Aus KATARRHSIS, dem Auftaktgedicht von „Große Fuge“

„Der Senat schließt die Kneipen zu“.

Das haben wir alle erlebt, jene ausgefallene Saison, die wir für eine Ausnahme von der Regel hielten, bis sich die Verhältnisse zuverlässig in ihr Gegenteil verkehrt hatten. Einem Jahr ohne Kunst folgte das nächste. Braun dichtet unter dem Anflug der Brocken. Es prasselt und hagelt das Unerwartete, das seine Betrachter:innen stutzen lässt.

In „Windbürger“ erwähnt eine Inventur-Instanz das Weltende. In „Leibesbeweis“ ist die selbstbezichtigende Rede von einem vernachlässigten Körper. Das Gedicht „Anatomie. Kleist, Meinhof“ treibt vergilbte Revolutionsromantik an. Braun entdeckt in Ulrike Meinhofs RAF-Aktionismus „das herrlichste Zugleich“. Er referiert den Frankfurter Kaufhausbrand als ein Ereignis „in der Zeil“. Heißt es nicht stets auf der Zeil?

Warum heißt die Zeil Zeil?

„Sie verlief parallel zur ... staufischen Stadtmauer aus dem 12. Jahrundert. Aus der baulichen Erscheinung dieser Zeit leitet sich ... der Name Zeil her.“ Quelle

Die lyrischen Stimmen evozieren flackerndes TV-Schwarzweiß. Der revolutionäre Furor weckt Ungeheuer der Reaktion. Die Selbstmorde von Stammheim kommen einem „Wunsch der Bevölkerung“ nach. Zum Schluss trifft sich Braun mit den Kolleg:innen von Heiner bis Hilbig zur „Geisterstunde“. Einar kommt nicht. Der Termin findet (in) auf der „lauschenden“ Chausseestraße statt.

Aus der Ankündigung
»Was haben Sie 2020 gemacht?« In dem Jahr, in dem die Welt »bewegt ist, miteinmal, stillezustehn«. Als die Straßen »entmenscht« sind, die Stadt ruhiggestellt ist und »die Logik der Rettung« lautet: »Nicht vor Publikum, nicht in dieser Saison«. Während »Wetterwandel« und »Weltenaufruhr« andernorts weitertoben: Im Anthropozän findet der Mekong sein Delta nicht mehr, fressen sich Brände in den trockenen Wald, herrscht ein »Krieg der Landschaften«. Und inmitten all dessen wir – der so moderne, aber doch vergängliche Mensch, der »Mensch der Katastrophe«, zu allem fähig, im Guten wie im Schlechten, stets menschlich.
Die neuen Gedichte von Volker Braun vermessen eine Welt, einen Alltag im Wandel. Immer politisch, immer sozial zeigt sich der Mensch in diesem Dazwischen. Und kann sich – trotz allen Fortschritts – die Natur am Ende doch nicht unterwerfen. Aber im ewigen Werden und Vergehen liegt auch ein gewisser Trost.

Ewig taumeln wir auf der Abbruchkante der Geschichte - Ich erinnere noch einmal an „Handstreiche“

Seine Habseligkeiten behält er im Blick. Er nennt das „die Habsucht der Augen“. Er sperrt das Allgemeine aus, auch wenn man doch (wie alle) mit der Mode geht; und sei es nur, um das Verhängnis zu tragen; über die „Abbruchkante der Geschichte“ hinaus, in die „Verwerfung“.

Volker Braun, „Handstreiche“, Suhrkamp, 91 Seiten, 18,-

Die Aphorismen des Brechtschülers Braun sind aus gröberen Klötzen herausgeschnittene, ziselierte und polierte Kleinode nicht nur des geschulten Denkens.

„Die Funktion von Kunst besteht für mich darin, die Wirklichkeit unmöglich zu machen.“ Heiner Müller

Brecht unterwies seine Schüler in der Kunst, Sonette aus den Ärmeln zu schütteln. Es gab in den tiefen Lagen des Berliner Ensembles kollektive Reimtermine. Prägend dazu kam für Braun die Sächsische Dichterschule mit ihren protestantisch-monologischen Zwiegesprächen. Man berief sich auf die Toten. Ich nenne Klopstock.

Man nahm sich ernst. Als Dichter in der Deutschen Demokratischen Republik war man politisch. Das scheint jetzt durch die Verse als immaterielles Erbe eines gescheiterten Staates, dessen Ideen in Hoffnungen überleben.

Die DDR-Dichter*innen hatten enorm potente Leser*innen, so wie die Stasi. Nach Neunundachtzig gerieten sie in einen Sog der Bedeutungsverluste und der Verdächtigungen.

Ausschreitungen auf dem Papier

Braun schreitet auf dem Papier auf, er eskaliert am Schreibtisch. Er wirft sich in einen Harnisch der Sprache.

„Nur der Liebende lernt seine Lektion“ schrieb Braun über Rimbaud. Er setzte das Trunkene Schiff auf den Müggelsee. Stranden ließ er es in der preußischen Prärie.

Das ist alles sehr schön und gut gemacht. Braun arbeitet „gegen die Deckgebirge der Verheißung“. Der alte Dekonstruktivist des Sozialismus weiß mit Heiner Müller: „Und wenn Sie mich nach einer Moral fragen, dann wäre die Blochsche Formulierung über die moralische Überlegenheit des Kommunismus auch meine: Der Kommunismus hat für den einzelnen keine Hoffnung. Aber das ganze System der Marktwirtschaft beruht darauf, dem einzelnen zu suggerieren, dass gerade er eine Hoffnung hat.“

Hat man das verstanden, ist die Strecke kurz zu Brauns Charakterisierung der Treuhand „als Instanz zur Verschrottung einer ganzen Gesellschaft“.

Ewig taumeln wir auf der Abbruchkante der Geschichte

„Handstreiche“ ist eine Versammlung solcher Vers gewordenen und silbentreuen Einsichten. Das Geklingel der Alliteration ist wie das Klopfen an der Tür. Ist da noch jemand? Oder verwaist das Schreiben hinter den Anti-Ansichten (zu „Hype & Hate gesteuerter Pöbellust“) einer hausgemachten Klassik voller „Heiterkeit, Grimm und Graus“?

„Ich lasse das Chaos arbeiten“, sagt der Dichter.

„Poesie ist eine Gegensprache und ist sie weiter nichts, dann ist sie eine Grimasse.“

Der Autor verbirgt sich in einer „Autobiografie aus Steckbriefen“. Er hat sich selbst zur Fahndung aus- vielleicht auch umgeschrieben - als ein im gesellschaftlichen Narrensaum Untergetauchter.

Volker Braun, 1939 in Dresden geboren, arbeitete in einer Druckerei in Dresden, als Tiefbauarbeiter im Kombinat Schwarze Pumpe und absolvierte einen Facharbeiterlehrgang im Tagebau Burghammer. Nach seinem anschließenden Philosophiestudium in Leipzig wurde er Dramaturg am Berliner Ensemble. 1983 wurde Volker Braun Mitglied der Akademie der Künste der DDR, 1993 der (gesamtdeutschen) Akademie der Künste in Berlin. 1996 erfolgte die Aufnahme in die Sächsische Akademie der Künste und in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Im Wintersemester 1999/2000 erhielt er die Brüder-Grimm-Professur an der Universität Kassel. Von 2006 bis 2010 war Volker Braun Direktor der Sektion Literatur der Akademie der Künste. Er erhielt zahlreiche Preise, u.a. den Georg-Büchner-Preis im Jahr 2000. Volker Braun lebt heute in Berlin.