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2021-05-31 05:08:48, Jamal Tuschick

„Torf und Schlacke, Regen ohne Ende“

Ängste suchen die Erzählerin heim. Nach einer Phase furchtloser Freiheit in der Einsamkeit einer Marschlandschaft, wo die Stadtflüchtige ein baufälliges Haus bewohnt, verflüchtigt sich die Unbefangenheit. An ihre Stelle tritt eine Sorge, die dazu führt, dass die Erzählerin ihre Kammer besonders sichert.

„Der Riegel war selbstverständlich peinlich, es war demütigend – eine alternde Frau, die ihr Schlafzimmer verschließt. Aber die Furcht war größer.“

Die Kate im Ried

Das vorspiellose Direkt

Die wetterfeste Mimi marschiert ohne zu prusten und zu zagen in die frühlingskalte Ostsee. Das vorspiellose Direkt entspricht einer von der Großmutter übernommenen Praxis. Mimis Familie lebt seit Jahrhunderten an der Küste. Da ist die Erzählerin bloß eine Versprengte. Zwar könnte sie in dem großen Haus ihres mit einer Skipperspelunke zu Geld gekommenen Bruders wohnen, doch lieber bleibt sie für sich jenseits des Dorfrandes mit nur einer Nachbarin: der vor Zugehörigkeit und Heimspielglück strotzenden Mimi.

Möwen vagabundieren in der Marsch.

Mimis Lebensmut

Mimi malt. Sie lässt die Flut über Leinewände gehen und nimmt die Spuren als natürliches Kollaborationsergebnis. Die Angehörige einer Bauerndynastie, der Bruder regiert den Hof als Herrscher über tausend Schweine, „geht ... ohne zu zögern, ohne einen Moment innezuhalten, ins Wasser“.

Judith Hermann, „Daheim“, Roman, S. Fischer Verlag, 21,-

Die Erzählerin haust in einer baufälligen Kate. Sie gerät in den Sog von Mimis Lebensmut, und lässt sich auch auf den Bruder ein. Arild verschafft ihr (auf einem Vorfeld der Unverbindlichkeit) ein Erlebnis außer der Reihe. Ich assoziiere mit Judith Hermanns nicht unbedingt ausweichenden Formulierungen sexuellen Konstruktivismus.

Die Schweinezucht als Kulisse für eine fundamentale Sachlichkeit im Zuge einer Variation von Mimis vorspiellosem Direkt - Ich schalte mich ungern als kritische Instanz ein, doch erfüllt die Gleichsetzung von Landleben und den Chancen der Simplifikation ein Klischee, das allerdings reizvoll nahe liegt. Man sieht das gern so. Hier die Verwehte aus der urbanen Sphäre, da der unangefochtene Bauer.

„Die Kormorane auf den Duckdalben breiten die Flügel aus.“

Mimis Eltern Amke und Onno sind urige Alte, herzlich gleichgültig in einem Fluidum aus Berberitzen und Sommerflieder. Als Hintersassen* gehorchen sie einer antiken Ordnung. Das heißt, Amke und Onno stehen ihrem Sohn nicht im Weg. Hermann deutet die archaische Gleichung an. Nur wer den Hof bewältigt, darf ihn auch bewohnen.

*„Im Mittelalter wurde Hintersasse mit der Bedeutung die hinter einem Herren sitzen auch als Sammelbegriff für die vom Grundherrn abhängigen Bauern gebraucht.“ Wikipedia

Aus der Ankündigung

Judith Hermann erzählt in ihrem neuen Roman »Daheim« von einem Aufbruch: Eine alte Welt geht verloren und eine neue entsteht.

Sie hat ihr früheres Leben hinter sich gelassen, ist ans Meer gezogen, in ein Haus für sich. Ihrem Exmann schreibt sie kleine Briefe, in denen sie erzählt, wie es ihr geht, in diesem neuen Leben im Norden. Sie schließt vorsichtige Freundschaften, versucht eine Affaire, fragt sich, ob sie heimisch werden könnte oder ob sie weiterziehen soll. Judith Hermann erzählt von einer Frau, die vieles hinter sich lässt, Widerstandskraft entwickelt und in der intensiven Landschaft an der Küste eine andere wird. Sie erzählt von der Erinnerung. Und von der Geschichte des Augenblicks, in dem das Leben sich teilt, eine alte Welt verlorengeht und eine neue entsteht.

Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt »Sommerhaus, später« (1998) wurde eine außerordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband »Nichts als Gespenster«. Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. 2009 erschien »Alice«, fünf Erzählungen, die international gefeiert wurden. 2014 veröffentlichte Judith Hermann ihren ersten Roman, »Aller Liebe Anfang«. 2016 folgten die Erzählungen »Lettipark«, die mit dem dänischen Blixen-Preis für Kurzgeschichten ausgezeichnet wurden. Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. Die Autorin lebt und schreibt in Berlin. Im Frühjahr 2021 erscheint der Roman »Daheim«, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde.