Rufus Scott ist am Ende und doch nur einen Schritt weiter als das Heer von Müßiggänger:innen auf den Vorhöfen offensichtlicher Obdachlosigkeit. Rufus nomadisiert in einer Stadt, deren Gewicht ihn erdrückt; in der er besseren Tage gesehen hat. Magisch zieht ihn das Zentrum seines verrauchten Ruhms an. Wo er einst als Schlagzeuger auf der Bühne glänzte, „cool und geliebt“, traut er sich jetzt kaum noch über die erste Schwelle. Eine indifferente Meute in Partylaune lässt sich jenen Abklatsch der Leidenschaft gefallen, mit dem die Musiker:innen die Verachtung strafen, die ihnen von der Bar entgegenschlägt.
James Baldwin, „Ein anderes Land“, Roman, auf Deutsch von Miriam Mandelkow, dtv, 25,-
„Die Wärme, der Geruch von Menschen, Whiskey, Bier und Rauch, die ihm durch die offene Tür entgegenschlugen, ließen ihn beinahe laut aufheulen.“
Untergrundkirchen des Hasses
1948 - In einer New Yorker Gegend mit so viel Zukunft, das schließlich jede Straßenecke Symbolkraft mit weltweiter Ausstrahlung besitzen wird, beginnt der Autor noch in der Steinzeit des Greenwich Village mit der Niederschrift. Das Manuskript begleitet Baldwin nach Paris und Istanbul, wo er es 1962 als Aktivist der Bürger:innenrechtsbewegung und Gefolgsmann von Martin Luther King vollendet. In den vierzehn dazwischen liegenden Jahren haben sich einige weiße Segregationsgewissheiten verflüchtigt. Die Rassentrennung ist politisch unhaltbar geworden. Das bedeutet aber auch, dass Ressentiments in Untergrundkirchen des Hasses weitergepredigt werden.
Der Beat von Harlem/Genie in der Gosse
Baldwin beschreibt eine Ghettoexistenz, die nach den Gesetzen und dem Beat von Harlem lebt. Das Faustrecht regiert; wer zu weit geht, „fängt sich ein Klappmesser“, wie Rufus lakonisch meldet. Es bedarf keiner besonderen Fatalität, um in einem Rinnstein liegen zu bleiben.
Baldwin beschreibt eine Subkultur, die das Niedrigste mit der Hochkultur des Jazz und dem Showbusiness verrührt. Die Musiker:innen schnupfen erst und spritzen dann Heroin. Sie bleiben enger mit der Straße verbunden als mit den Hochämtern der Avantgarde.
Baldwins Erzähler nimmt keinen übergeordneten Standpunkt ein. Man sieht förmlich, wie über ihm Wellen des Wahnsinns und der Verzweiflung zusammenschlagen. Vielleicht ist das zu projektiv formuliert.
Rufus verkörpert jedenfalls nicht das Genie in der Gosse.
Sein Schöpfer schildert Rufus rüde:
„Halblaut verfluchte er die milchweiße Schlampe und stieß ihr stöhnend seine Waffe zwischen die Schenkel.“
Kaum zu glauben, dass dieser Satz in einem Buch steht, das eben neu übersetzt wurde.
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Rufus lässt sich auf Leona ein, die aus dem Süden stammt und als arme Weiße in ihrem Liebhaber die widersprüchlichsten Empfindungen auslöst.
Aus der Ankündigung
Warum hat Rufus Scott – ein begnadeter schwarzer Jazzer aus Harlem – sich das Leben genommen? Wegen seiner Amour fou mit der weißen Leona, einer Liebe, die nicht sein durfte? Verzweifelt sucht Rufus’ Schwester Ida nach einer Erklärung. Aber sie findet nur Wahrheiten, die neue Wunden schlagen, – auch über sich selbst. Wie ihr Bruder war Ida lange bereit, sich selbst zu verleugnen, um ihren Traum zu verwirklichen, den Traum, Sängerin zu werden. Wie ihr Bruder hat sie ihre Wut auf die Weißen, die sie diskriminieren. Bis jetzt. Baldwin verwickelt uns in ein gefährliches Spiel von Liebe und Hass – vor der Kulisse eines Amerikas, das sich selbst in Trümmer legt.