„Wenn alle Gründe dagegen sprechen, und man es trotzdem durchzieht - das sind die Erfahrungen, von denen wir später erzählen.“ Charlie Engle, Spiegel Online am 30.04.2018, 08.55 Uhr
„Mark Jefferson behauptet, dass Sentimentalität eine Frage der Entscheidung sei. Seiner Theorie nach wählen Menschen die verzerrte Wahrnehmung der Wirklichkeit, um in Reaktion darauf etwas zu empfinden. Er beschreibt Sentimentalität als spezifische Ausprägung einer vererbten Verzerrung, einer Fiktion der Unschuld.“
Leslie Jamison, „Die Empathie-Tests. Über Einfühlung und das Leiden anderer“, aus dem amerikanischen Englisch von Kirsten Riesselmann, Suhrkamp, 12,-
Die Unterwanderung der Wirklichkeit verlangt nach dem Komplementär „der Boshaftigkeit“. Aus gefühlslasch und gemein entsteht „vulgäre Antipathie“. Leslie Jamison addiert die Positionen und ihre anayltischen Klimaxe so, dass sie wie Laborresultate im Umkreis von Experimenten mit Pilzkulturen erscheinen. Sie fürchtet die „überspannten Gesten … (und) gebrochenen Versprechen“ der Sentimentalen.
Doch was widerfährt uns, wenn wir Sentimentalität abweisen? Jamison zählt auf: „Ermattung, Ironie, Kühle.“ Wieder scheint das Schlechte gleich gut verteilt. Wer es darauf anlegt, kann alles Mögliche im „sentimentalen Zyklus“ wiederfinden: Schuldgenuss, die stumpfe Vermählung mit dem Tragischen, die Flucht in „verflüssigte oder eingefrorene Ersatzgefühle“.
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Im nächsten Erzählaugenblick installiert sich Jamison in Fayetteville (West Virginia). Der Highway 19 teilt die Stadt. Das größte Ding vor Ort ist die New River Gorge Bridge. Die Autorin bemerkt Wohlstand, mit dem sie offenbar nicht gerechnet hat.
„Es ist früh am Morgen, und ich bin auf der Suche nach Vierteldollars. Die ... (City) ist beschaulich und voller stattlicher Häuser: Bergbau-Geld wahrscheinlich. Wir befinden uns im Herzen des Kohlereviers.“
Jamison ist auf dem Weg zu Charlie Engle, einem Extremsportler, der wegen Betrugs im Gefängnis sitzt und da Marathondistanzen absolviert.
„Charlie und ich haben uns vor zwei Jahren bei einem Ultramarathon in Tennessee kennengelernt, nur wenige Monate bevor Charlie des Hypothekenbetrugs überführt und zu zwanzig Monaten … verurteilt wurde.“
Demographische Menagerie
Eine Weile jobbte Leslie Jamison als „Darstellerin von Krankheiten“. „(Medizinstudent:innen) mussten erkennen, woran sie (vorgeblich) litt.“ Nicht nur die diagnostischen Fähigkeiten wurden beurteilt. Auch das Einfühlungsvermögen unterlag einer Schätzung. Nach der viertelstündigen Begegnung füllte die Simulantin einen Evaluationsbogen über die Performances der angehenden Ärzt:innen aus.
Gemeinsam mit Kolleg:innen erfüllte/erfühlte Jamison Funktionen in einer „demographischen Menagerie: Da (gab) es die Sportskanone mit dem Kreuzbandriss und den Manager mit dem Koksproblem. Die Tripper-Oma (hatte) gerade ihren Ehemann betrogen, mit dem sie seit vierzig Jahren verheiratet (war)“.
Die Darsteller:innen verfügten über eine eigene Druckkammer im Krankenhaus; einen Raum, um Dampf abzulassen.
Am liebsten bewies Jamison ihr Mimikry-Talent in der Rolle einer „Dreiundzwanzigjährigen, die an einer sogenannten Konversionsstörung leidet. Die Trauer über den Tod ihres Bruders äußert sich bei (Stephanie Phillips) in Krampfanfällen.“
Soziale Lähmung
Laut Skript weiß Stephanie nicht, woher die Zuckungen kommen. Jede Verbindung zwischen ihrer Trauer und körperlichen Reaktionen erscheint ihr abwegig. Die Anfälle und den Verlust kriegt Stephanie nicht zusammen.
Bei einer ausufernden Party war der Bruder betrunken ertrunken. Bruder und Schwester hatten einen gemeinsamen Nebenverdienstarbeitgeber. Inzwischen geht Stephanie gar keiner Beschäftigung mehr nach. Ihr fehlt selbst die flachste Reflexionsebene. Deshalb versteht sie nicht, wie weitreichend ihre soziale Lähmung ist.
Aus der Ankündigung
In einer virtuosen Mischung aus Reportage, Kulturkritik und persönlichem Erzählen schreibt Leslie Jamison ein radikal aufrichtiges Buch über Empathie – und wird verglichen mit Susan Sontag, Joan Didion und David Foster Wallace.
Ist Empathie eine naturgegebene Qualität oder eignen wir sie uns kulturell an? Ist sie wirklich immer von Vorteil oder kann sie auch destruktiv wirken? Wo fängt Mitgefühl an, wo endet es? In ihren fesselnden wie schonungslosen Essays lotet Leslie Jamison genau diese Grenzen aus. Sie schreibt über das Verhältnis von Ärzten und Patienten, über Elendstourismus, über weiblichen Schmerz. Und sie führt ihren eigenen Körper ins Feld, beschreibt persönliche Leidenserfahrungen und beobachtet sich im Umgang mit sorgenvollen Mitmenschen.
Immer wieder stellt sie dabei die Frage, wie weit wir dabei gehen können, wie sehr wir uns in andere hineinversetzen können und weshalb sich Empathie zu dem Modephänomen unserer Zeit entwickelt hat.
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