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2018-10-28 13:00:13, Jamal Tuschick

Eine Geschichte der Gastarbeit in Osthessen IX. Folge

Unverschämte Dummheit

Osthessen

Der auf einem osthessischen Knick in einer Enge zwischen Thüringen und Franken ansässige Unternehmer Amiran Vanilisi beschäftigt fast ausschließlich Migranten in seiner Fabrik für Schuhbodenteile. Seine Vorfahren flohen von einem Ufer zum anderen aus Georgien in die Türkei und bildeten da die nicht anerkannte Minderheit der Lasen. Das sind in der Mehrzahl sunnitische Muslime, vereinzelt auch orthodoxe Christen. Die kulturellen Trennlinien verlaufen umgekehrt proportional zu den Demarkationen zwischen den christlichen und den muslimischen Armeniern (Hemşinli), die sich in den gleichen Gebieten ausdifferenziert haben. Amirans Vorfahren stammen bis zur Generation seiner Eltern ausnahmslos aus der Provinz Düzce. Obwohl sie mit keiner markanten Ethnie auf dem Staatsgebiet der Türkei verwandt sind, nimmt man sie als Türken wahr.

Die Geschichte der Gastarbeit muss noch geschrieben.

Eingebetteter Medieninhalt

2007, ich war neunzehn, stand der Kasten vor der Pleite. Uns rettete ein bayrischer Meister Eder, der gern alle und alles anfasste und sich erklären ließ und seine Nase zwanghaft in Angelegenheiten anderer Leute steckte. Er versuchte Vater für einen Gesundheitsschuhbodenkomponentenbau zu erwärmen, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte. Der Handwerker hatte begriffen, dass viel Handarbeit bei der Herstellung eines Gesundheitsschuhs keine Meisterqualifikation braucht und folglich der Schuh in verkappter Weise zu teuer produziert wird. Vater zeigte sich skeptisch, ihm waren die Margen zu gering. Doch ich erkannte meine Chance.

Ich musste mich beweisen. Nach Feierabend verwandelte ich jeden Raum, den ich kriegen konnte, in ein Labor. Ich experimentierte auf der Basis genauer Vorstellungen. Der Schuhmeister hatte sich bis ins Detail in seinen Plan verliebt. Er weihte mich ein und ich erkannte seine Grenzen. Meister Eder war keiner, der in den Größenordnungen einer Fabrik denken konnte. Er frühstückte dreimal, bevor er sehr ausführlich zu Mittag aß, und er nahm jede Gelegenheit zu einem Schwätzchen wahr. Seine opa- und onkelhaft vorgetragenen Flirtversuche schrammten an Nötigungen vorbei. Meister Eder dachte, bei den Türken gehöre Übergriffigkeit zum Paschatum. Er wurde aufgeklärt und eingenordet, einmal sogar handgreiflich. Aber selbst das lief einfach so durch. Der Meister war strunzig und plemplem, aber gerissen und in seinem Rahmen fähig. Zugleich war er ein ganovesker Depp.
Vater half zuerst als wissender Zuhörer, der mich stundenlang Sackgassen pflastern ließ. Nie schrieb er einen Weg vor. Er hatte sich alles selbst beigebracht und hielt es immer für möglich, dass ich eine bessere Lösung finden würde als er.
Nachdem ihm klargeworden war, wie ernst ich das Hobby nahm, half er, wo er konnte. Er überraschte mich mit einem Coup. Bei unserer Hausbank machte er einen Millionenkredit locker, angeblich für einen Fabrikhallenneubau, den ich überdimensioniert fand.
„Warte es ab“, sagte Vater, „du wirst noch jeden Zentimeter brauchen.“

Die Pappkoffergeschichte

Seit dem Siegeszug der Leichtbauweise sieht alles nach Hangar aus und so auch der 1. Tennis Club Finkenherd (TCF), in dem Vater jederzeit willkommen gewesen wäre. Er verkniff sich die Aussicht auf ein Vergnügen. Den Verzicht färbte er mit Verachtung. „Wer braucht ein Hobby, wenn er Arbeit hat.“
Auf Anfang fiel es mir schwer, über ihn zu reden. Jetzt sehe ich ihn deutlicher als meinen Großvater, der aus dem Nichts absoluter Bedeutungslosigkeit gekommen war, als Sohn eines Knechts und einer Magd, die, um mich zu wiederholen, für so etwas Geringwertiges wie Arbeit kein Geld erwarten konnten, sondern nur Steine, um sich das Kreuz kaputt zu heben und Demütigungen, die gefressen werden musste, bis kein Stolz mehr sie aufrecht hielt.
Großvater sah zum ersten Mal einen Arzt bei seiner Musterung und zum weiten Mal, als er für Deutschland gemustert wurde. Das ist eine Pappkoffergeschichte, um den Koffer die Kordel. Für Großvater war Anton Schlossers Fabrik für Holzabsätze das Paradies. Er wohnte in einem Anbau, der in Verschläge unterteilt war. In Boxen. Das war ein Stall für Männer. Großvater schlief da gut, weil satt zu sein und Geld zu verdienen, fast mehr war, als er begreifen konnte. Nach zwei Jahren schon zog er in die Sphäre des Fabrikherrn um. Er bekam eine richtige Wohnung mit drei Zimmern, Küche und Bad. Er war so emporgehoben, als dann auch noch seine Familie nachkam. Vater war der letzte aus seiner Generation, der in der Türkei geboren wurde.
Der Aschaffenburger Fuhrmann Anton Schlosser hatte 1951 einen Behelfsbau auf eine verseuchte Wiese neben Feldern am Rand von Finkenherd gesetzt. 1952 nahm er den Betrieb auf. Er produzierte für die Schuhindustrie von Pirmasens und lieferte persönlich ab. Er beschäftigte die Nieten vor Ort, die zum ersten Mal in ihrem Leben eine Perspektive hatten. Mit ihnen baute er eine feste Flachdachhalle, die er vertikal und horizontal erweiterte. Auf das Dach setzte er 1954 ein Penthouse mit Panoramafenstern und Schnick und Schnuck. Zwischen Würzburg und Kassel gab es so ein Ensemble nicht noch einmal. Schlosser ließ sich einen Bunker bauen, in dem er den nuklearen Winter nach dem unvermeintlichen Atomschlag überleben wollte. Ein Vorbau wurde dann zur ersten Wohnung meines Großvaters so wie anderer Gastarbeiter. Bevor die Türken 1964 kamen, um zu bleiben, es reagierte keiner auf die Heimkehranreize, baute und organisierte Schlosser den Kasten so um, dass ein Stockwerk frei wurde - zweihundertfünfzig Quadratmeter ungenutzte Fläche. In diesen Raum setzten seine Leute Großvaters erste richtige Wohnung. Der Aufstieg war mit Händen zu greifen. Seelisch blieb er unfassbar. Ich behaupte, wir arbeiten immer noch an der Verarbeitung.
Ich weiß nicht, was es war. Hatte Schlosser einen Narren an Großvater gefressen? Ich glaube nicht, dass Großvater etwas Überwältigendes und alle Welt Einnehmendes hatte. Sein Bedeutungszuwachs, diese gewaltige Schwellung, kommt mir vor wie eine Grille der Natur.
Ein einfacher Mann, der kaum lesen und schreiben kann, keinen Führerschein besitzt, die längste Zeit auf Eseln und Fahrrädern seine Strecken bewältigt hat, der von einem ganz ohnmächtigen Vater immer wieder bewusstlos geprügelt worden war, ein Ali, wie er im Buch steht, wird an allen vorbei zum Thron des Herrschers geführt und soll neben dem Fürsten Platz nehmen und behalten.
Großvater hätte für Schlosser gemordet. Das war sein Gott.
Schlosser war nebenbei Heiler, Seher und Seelenberseker, das alles in katholischen Farben.
Großvater beobachtete, wie Schlosser die eigenen Söhne verschliss, sie fertigmachte und abservierte, einen nach dem anderen. Er sah die Erben wie Kegel fallen. Das Schicksal winkte ihm weiter freundlich zu. Als er dann ans Ruder kam, nahm er keine Rücksicht. Er zeigte dem in die Enge getriebenen Gründer den einzigen Ausweg. Der Weg führte nach oben zu den Engeln im Himmel.
Mir hat nie jemand erklärt, warum Großvater Schlosser den Rest ohne Verzuckerung gab. Vielleicht hat der große Weltbeweger Großvater zweimal zu oft zu verstehen gegeben, dass er doch nur von ihm hochgehobener menschlicher Auswurf sei.
Schlosser korrespondierte in seinen letzten Jahren mit bedeutenden Leuten, die ihn als Anreger erlebten. Er schrieb mehr als zehntausend Leserbriefe und erschuf eine Reihe von Papierpersönlichkeiten, die zwischen links- und rechtsradikal, Atomphysik und Furzgeschichten manövrierten. Da war eine unglaubliche Potenz ... die unter einer Staubschicht in Vergessenheit geriet.
Unverschämte Dummheit
Gerade lief mir Alima über den Weg. Sie hat in Syrien in einer Agentur für Animationsfilme gearbeitet und ist gemeinsam mit ihrem Mann im Maschinenraum der Fabrik gelandet. Sie findet es lächerlich, dass ich so wenig über das Herkunftsland meiner Eltern weiß. Ich kenne die Türkei nur aus der Handtuchperspektive. Meine Ansichten bleiben touristisch, auch wenn es ständig verwandtschaftlichen Austausch gibt, und wir in Deutschland zu Türken geworden sind, während unsere Vorfahren auf ihre georgische Andersartigkeit Wert legten, soweit man als armer Mensch überhaupt auf irgendetwas Wert legen kann.
Mein Großvater verstand sich als Lase. Was er nicht wusste, dieser Mangel an kulturellem Background, universalisierte er zu einem Verlust der ganzen Minderheit. Er erzählte sich eine Differenz mit den Hilfsmitteln der Phantasie. Er redete nie schlecht über Deutsche. Er beschwieg die türkischen Verhältnisse. Eine totalitäre Prägung sprach sich in der Zurückhaltung aus.
Alima ging auf eine Klosterschule, obwohl sie Muslima ist. Während die konfessionell anders gebundenen Kinder Jesusbilder anfertigten, malte sie vor sich hin. Sie lebte in einem Haus mit Garten und Pool – und in der Obhut einer Großmutter, die den Koran in jeder freien Minute konsultierte. Auch Alima wurde des Betens nicht müde, wollte sie doch mit Fürbitten ihre christliche Schulleiterin vor der Hölle bewahren.
Alima erzählt manchmal von dem Glück der Normalität vor ihrer Entwurzelung. Die Lebhaftigkeit ihrer nach allen Seiten nachgebenden Umgebung wirkte wie eine falsche Versicherung gegen die Vereinzelung, von der sie kalt erwischt wurde. Bis auf ihre Großeltern, die noch in Damaskus leben, ist die Familie in der Welt versprengt.

„Ich weiß, dass wir uns in der Konstellation meiner Kindheit nie mehr wiedersehen werden.“
Die Flüchtlinge erzwingen einen Verwaltungsaufwand, der das Niveau eines normalen Mitarbeiterdurchlaufs weit übersteigt. Die Leute kosten Zeit und Nerven. Sie setzen einen dem Risiko aus, viel mehr falsch zu machen als normalerweise. Sie unterliegen einer staatlichen Kontrolle, die unternehmerische Mittelstandbelange so ignoriert wie eine Diktatur die Bürgerrechte.
Wenn sie an einem Dienstag im Regierungspräsidium erscheinen müssen, interessiert dort keinen meine Produktion. Niemand kommt einem dämlicher auf dieser Welt als ein Behördensachbearbeiter, der nur damit beschäftigt ist, die Wirtschaft lahmzulegen. Siebenundneunzig Flüchtlinge leben in Finkenherd, dezentral untergebracht zur Vermeidung eines Ghettos. Ehrenamtliche Paten machen die Flüchtlinge mit den örtlichen Gepflogenheiten vertraut. Da zeigt es sich wieder, das Vorausschauende in der Nächstenliebe, die Angst vor der Parallelgesellschaft.
Letztes Jahr tauchten Pfarrer Salinger und Flüchtlingskoordinatorin Sarah Gerster im Kasten auf und belagerten meine Schwester Lika. Sie war in der bisher schwersten Krise ihres Mannes über Nacht zur Personalchefin aufgestiegen und versprach, von Scheinbedeutung geschwängert, den Kasten in eine Musterschule der Flüchtlingsintegration umzuwandeln. Unsere Fabrik wird in Finkenherd wie ein Sportverein wahrgenommen, der jeden aufnimmt, der guten Willens ist. In unserer Stadt gibt es nicht viele, die Ungelernten Arbeit geben können. Jede Woche schickt man mir jemand, der vermutlich nie ernsthaft arbeitsfähig war und sich nur in seiner Deklassierung begreift. Das Gift einer herabsetzenden Fremdwahrnehmung lähmt ihn im Verein mit verheerenden Gewohnheiten. In einer Region mit zweikommafünf Prozent Arbeitslosen sind Auftritte schwer vermittelbarer Deutscher in einem Konferenzraum absurdes Theater.
Lika belagert mich. Sie sitzt auf dem ehemaligen Esstisch unserer Eltern und erinnert mich mit ihrer herausfordernd naseweisen Art und unverschämten Dummheit an unsere gemeinsame Jugend. Lika war stets dabei ... dreiviertel der Belegschaft ist höher qualifiziert als sie. Seit Tagen liegt sie mir in den Ohren mit dem Wunsch unserer grünen Koordinatorin Sarah, noch mehr Flüchtlinge in der Fabrik unterzubringen wie in einer ausgemusterten Turnhalle. Irgendwas zwischen betreutem Wohnen und geschützten Werkstätten ist der Betrieb in Sarahs somnambuler Wahrnehmung.
Lika spricht sich eine Bedeutung aus dem Nichts zu. Im Grunde und von Herzen ist ihr egal, ob jemand bei uns einen Zukunftshafen findet oder eben nicht. Sie will nur vor Sarah glänzen. Sarah gehört zur mächtigsten Familie in Finkenherd. Für mich ist der Gerster-Klan reine Mafia.
Likas Mann gesellt sich. Er trägt schwer an einem halben Dutzend Krankheiten. Alle sind tödlich. Es ist ein Wunder, dass Sasa noch lebt. Krankheiten machen mir Angst; es fällt mir schwer, Sasa gerecht zu werden; obwohl ich meinen Schwager mag.
Er tut, was er kann und merkt kaum, wie egal das ist.
Kadira und ihre Töchter treten auf. Kadira ist meine Freundin. Lieber wäre sie meine Frau. Ich heirate nicht noch einmal. Meine Ex, mit der ich drei Kinder habe, ist meine effektivste Feindin. Sie hält mich in Schach ...
Unter der Woche kommt die Familie jeden Mittag im ehemaligen Esszimmer der Eltern zusammen. Die Geschwister sitzen an dem Tisch ihrer Kindheitsmahlzeiten. Das betrifft Lika, Levan und mich. Lika verweigert ihrem Kranken den Trost solidarischer Nahrungsaufnahme. Sie sitzt neben der Frau meines Bruders. Mit Nina hüte ich seit drei Jahren ein Verhältnis. Es begann zur gleichen Zeit wie meine Beziehung zu Kadira. Plötzlich kam mir mein Leben wie ein Comic vor.

Der kubanische Vater von Kadiras Töchtern hatte nach der Scheidung einen Voodoo-Priester engagiert, der Kadira zusetzte. Als ich sie kennenlernte, war Kadira am Ende. Ihre Kinder kommandierten sie und bestimmten das Fernsehprogramm. Ich hatte enorme Schwierigkeiten, zu kapieren, was ich sah. Während Nina mit mir meinen Bruder betrog, drängte es mich, Kadira von dem karibischen Fluch zu befreien.
Morgen mehr.