Ein essayistischer Shot auf der Basis von Kurt Tucholskys Aufsatz „Die Glaubenssätze der Bourgeoisie“ aus dem 1929 erstmals erschienenen Sammelband „Das Lächeln der Mona Lisa“.
Herzlos aus Mangel an Horizont
Überlässt man den Gegenstand einer Betrachtung der Gleichgültigkeit und bedenkt nur die Argumentation, ergibt sich Bemerkenswertes. Tucholsky behauptet:
Der Nationalcharakter mildere spezifische Eigenschaften, sofern er sie nicht stärker hervortreten lasse. Er münzt die Feststellung auf die Bourgeoisie. Da erkennt der Diagnostiker eine „Geisteshaltung“, die aus jenem sozialen Sumpf wie Faulgas aufsteigt, in dem die Mangroven einer Vermögens- und Erwerbsverherrlichung im Wettbewerb der anaeroben Gärung gedeihen. Um den Punkt vorwegzunehmen und einzukreisen. Archaeen wirken zersetzend unter Ausschluss von Oxygenium.
„Platt und hart“ sowie „chauvinistisch aus Angst“ erscheint die bourgeoise Person auf einer über Länder und Kontinente hinausreichenden Bühne. Tucholsky findet sie „herzlos aus Mangel an Horizont (und) roh aus Phantasielosigkeit“.
Was macht den Charakter schief?
Tucholsky erklärt die Krux mit einem mehr, das nicht genug ist. Die Spießer:innen verdienen mehr „als die Notdurft erfordert (aber) nicht genug, um den Standesansprüchen zu genügen“.
Man muss sich stets vor Augen führen, was Tucholsky fürchtet und wogegen er anschreibt. Er betrachtet nämlich in der prosaischen Fingerübung das hinfällige/hingerissene/aufgerissene, jedenfalls empfängliche Publikum der faschistischen Machtergreifung. Er beschreibt den Zwangscharakter des Untertanen, der sich als Pfeffersack nur tarnt. In Wahrheit besteht der Pfeffersack ganz und gar aus Gehorsam. „Der Panzer seiner Vorurteile“ wurde aus Binsen geschmiedet.
Tucholsky agitiert nicht der diskrete Charme der Bourgeoisie. Er beschreibt eher Typen aus dem Souterrain des Wohlstands; Buchhalter, die sich „Werkbeamte“ nennen und an ihren Glaubenssätzen festhalten wie an jeden Katechismus. Seit der Kaiser weg ist, herrscht eine Unruhe, die ihnen Leibschmerzen bereitet.
Es fehlt die unangefochtene Autorität des Gottesgnadentums, das ihnen einen Rang als Oberbuchhalter garantiert, und ihrem Aberglauben den ärgsten Schrecken nimmt. Zwar gibt es keine Gespenster. Trotzdem geht man nachts nicht auf den Friedhof.
Man schläft auf den Kopfkissen der Metternich-Kanzeltitel, die übrigens am Theater bis heute verwendet werden. Tucholsky schildert Wähler:innen ihres persönlichen Untergangs. Sie haben sich schon entschieden, Jahre vor dem Ende der Weimarer Republik. Das unterscheidet sie von amerikanischen Ausgaben ihrer Selbst.