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2021-08-23 08:05:04, Jamal Tuschick

Zu ihrem 150. Geburtstag am 22. August 2021 erinnere ich an jene Frau, die Carl Bolle im Berliner Milchkrieg zäh Paroli bot und den Großmeier endlich besiegte. Obwohl Lydia Rabinowitsch (1871–1935) weltweites Renommee genoss, endete ihre Karriere (nach dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 07.04.1933) 1934 mit der Zwangspensionierung.

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Rabinowitsch-Kempner findet „in keiner der zahlreichen Robert Koch-Biografien (Erwähnung), obwohl sie über viele Jahre hinweg eine enge Mitarbeiterin (des Nobelpreisträgers) war“. Das stellt Katharina Graffmann-Weschke fest in:

„So wollen denn auch wir in diesem Sinne handeln. Die Bakteriologin Lydia Rabinowitsch-Kempner“, Hentrich & Hentrich, 24,90 Euro

Berliner Milchkrieg

Lydia Rabinowitsch wächst im litauischen Memelmilieu auf. Ihre aus einer Burg herausgewachsene Geburtsstadt Kaunas, damals Kowno, gehört zum Zarenreich und liegt günstig an einer stark frequentierten Route zwischen St. Petersburg und Ostpreußen. Der Vater ist ein städtischer Bierbaron; die Familie lebt großbürgerlich auf einem Gut; wenn auch im Wutschatten von Pogromen. Im Weiteren unterliegt die litauische Bevölkerung „Russifizierungskampagnen“.

Lydia Rabinowitsch nutzt keineswegs selbstverständliche Bildungschancen.

„Hingegen hatte in Russland bereits Katharina II. (1762–1796) durch die Gründung spezieller Institute für nichtadelige Mädchen den ersten Schritt zur höheren Schulbildung getan. Nach ihr übernahmen die Frauen der späteren Zaren die Verantwortung für die Förderung des Schulunterrichts.“

Die weiterführenden Ausbildungen laufen nur sehr eingeschränkt auf Hochschulzugangsberechtigungen hinaus. Der progressive Kern dreht sich um den Nachschub an Lehrerinnen. Akademisch ehrgeizige Untertaninnen des russischen Herrschers immatrikulieren sich an Schweizer Universitäten.

„In Zürich war die erste Studentin der Medizinischen Fakultät im Sommersemester 1867 eine russische Frau.“

Lydia Rabinowitsch studiert in Zürich und Bern Botanik und Zoologie. Die Kolonien der russischen Diaspora sind Drehscheiben und Schwungräder revolutionärer Kräfte. Durch die Schweizer Informationskanäle sickert die Gülle übler Nachrede. Es gibt kaum einheimische Studentinnen, da das gymnasiale Sprungbrett fehlt. Die biedere Bevölkerung betrachtet argwöhnisch das Treiben der oft „kurzhaarigen“ Pionierinnen.

„Die Fremdartigkeit der Russinnen sorgte immer wieder für Gesprächsstoff unter den Schweizerinnen.“

1894 wird Lydia Rabinowitsch Robert Kochs Assistentin am Berliner Königlich Preußischen Institut für Infektionskrankheiten. Sie arbeitet im Krankenhaus Moabit, das als Seuchenstation gegründet wurde. Vorübergehend übernimmt sie Führungsaufgaben am Women's Medical College in Philadelphia. Sie etabliert da 1896 ein Department für Bakteriologie. Die Tuberkuloseforschung rückt ins Zentrum ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit, die sie überwiegend in der deutschen Hauptstadt ausübt. Rabinowitsch-Kempner weist die Infektiosität der Milch tuberkulöser Kühe nach. Als Expertin gerät sie in eine brandgefährliche Auseinandersetzung mit dem Berliner Milchmogul. Der alte Carl Bolle versucht Rabinowitsch-Kempner zu verschaukeln. Als sie im Auftrag der Stadtverwaltung Bolles Meierei unter die Lupe nimmt, schiebt man ihr abgekochte Milch unter. Die Wissenschaftlerin zeigt den Betrüger an. Der Berliner Milchkrieg zieht sich vor Gericht hin und endet mit einem zukunftsweisenden Hygienekonzept, das Rinder als Überträgerinnen von Tuberkulose ausschließt. Der Kaiser verleiht Rabinowitsch-Kempner 1912 den Professorentitel. Die Ehre wurde zuvor nur einer Preußin zuteil.

„Preußen gehörte 1908 zu den Schlusslichtern bei der Einführung des Frauenstudiums und Zulassung von Hochschullehrerinnen in Europa ... Das am häufigsten gewählte Fach unter den neuen Studentinnen war Medizin ... Die Möglichkeit ein Studium aufzunehmen bedeutete jedoch noch lange nicht, auch die akademische Laufbahn einschlagen zu können ... Eine besondere Ausnahme bildete die Archäologin Johanna Mestorf, die als erste Frau Preußens von der Kieler Universität 1899 den Titel einer Honorar­professorin und zehn Jahre später die Ehrendoktorwürde der medizinischen Fakultät verliehen bekam. Das allgemeine Habilitationsrecht erhielten Akademikerinnen erst 1919.“ Quelle