„Seltsam, wie sehr die schüchternsten Frauen sich von Ungeheuern angezogen fühlen.“
Laferrière stellt das in der U-Bahn von Montréal fest, angesichts einer „feingliedrigen Chinesin“, die Hemingway, „den alten Rohling“ liest. Der Buchrücken in den Frauenfingern fokussiert den Autor. Er rückt auf. Sein Begehren macht sich bemerkbar.
“Cobweb handwriting, traced long and fine with quiet disdain and resignation: a young person of quality”, schreibt James Joyce zu Beginn des schwarzen Jahrhunderts in Giacomo Joyce. Hundert Jahre später erliegt Laferrière dem Reiz weiblicher Fragilität in einem öffentlichen Verkehrsmittel. Seltsam insistierend begründet er die als Gewissheit dargestellte Vermutung, eine Chinesin dabei zu beobachten, wie sie sich von antiken Grobheiten einnehmen lässt.
Der Autor pflastert die Erzählstrecke mit Unterstellungen. Er kann sich selbstverständlich so sicher nicht sein, eine vom alten Ernest affizierte Chinesin auf dem Vorplatz eines erotischen Randoris (mit einem noch atmenden Schriftsteller) zu treffen. Laferrière spekuliert über die Wirkung der Prosa nach wunschgedanklichen Annahmen.
Dany Laferrière, „Granate oder Granatapfel, was hat der Schwarze in der Hand?“, Roman, übersetzt von Beate Thill, Verlag das Wunderhorn, 25,-
Manchmal folgen ihm Geneigte nach kaum minutenlangen Erstbegegnungen, ohne Vorgespräch. Es kommt vor, „dass ich ein Mädchen mit zu mir nehme, ohne sie überhaupt nach dem Namen gefragt zu haben“. Trotzdem verbringt Laferrière die aufregendste und vor allem glücklichste Zeit mit Dostojewski in der Badewanne, das „vereiste Russland (und andere) mysteriösere Gegenden“ durchquerend.
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Frauen rennen dem Debütanten in Kanada die Bude ein. In einer besonders anrührenden Szene platziert sich eine Nachbarin, die sich sonst stets nahezu nackt präsentiert, in einem Kleid auf dem Wannenrand. Sie hat sich nicht nur selbst eingeladen, sondern wirkt auch wie eine Gastgeberin. Sie bemüht sich um Laferrière mit „Austern, Zitrone, Salz, zwei Flaschen Wein und ...“ Resigniert schließt der Wannenleser die Augen. Es wird wieder einmal nicht ohne Sex abgehen.
Aus der Vorbemerkung: „Gewiss, (James) Baldwin starb in Frankreich, aber die tödliche Wunde wurde ihm in Amerika zugefügt.“
James Brown - Living in America
Der Autor nennt sein Werk einen Roman, um gleichzeitig zu behaupten, es sei keiner. Er bezieht sich auf das Pfeifenzitat von Magritte.
„Das Werk aus dem Jahr 1928/29 zeigt, was direkt dem Titel widerspricht, die Abbildung einer Pfeife auf einem gelblichen Hintergrund mit dem darunter stehenden Satz: ‚Ceci n'est pas une pipe‘. ... Auf der Pfeife spiegelt sich das Licht von oben und von links, sodass die Pfeife einen realen Eindruck erweckt.“ Quelle
Von Franz Marc gibt es eine ähnliche Geschichte. Jemand fragte, warum er blaue Pferde male. Marc entgegnete (aus dem Gedächtnis): Ich male keine Pferde, sondern Bilder.
Ich verstehe Laferrière so, dass er sich einen Spielraum verschaffen will. Er möchte auf keinen Fall festgenagelt werden. Unter der Bedingung, dass man ihm die Wahrheit nicht zum Vorwurf machen kann, da er sie im Fach für erzählende Prosa ablegt, gibt er sie unverschämt preis.
Das ist die Generalansage: „In Amerika ist man pausenlos unterwegs.“
Nach einem Achtungserfolg bietet sich einem karibischen Starter eine Hochglanzperspektive. Für ein Spitzenmagazin soll er die Vereinigten Staaten bereisen. In der Vorbesprechung fühlt er einem Redakteur auf den Zahn. In die Enge getrieben, kommt der weiße Lappen mit einem kolossalen Wir um die Ecke. Vermutlich möchte er den Eindruck schinden, die Deutungshoheit klar auf seiner Seite zu haben. Der Schriftsteller erkennt aber in der kläglichen Selbstvergrößerung des Etablierten den Plural der Bedrängten.
„Immer dieses Wir, sobald sie sich ein bisschen bedrängt fühlen!“
Das erzählende Ich möchte „in den Kopf des jungen Mannes einen Nagel reinzuhauen. Er kommt bestimmt gerade von Harvard oder einer anderen Spitzenuniversität, die junge WASPs so gut darauf vorbereiten, von der Wall Street aus die Dritte Welt verhungern zu lassen.“
Der Erzähler ist froh, dass Redakteure in der Regel keine Close-Range-Combat-Kompetenz besitzen.
„Zum Glück beherrschen sie nicht den Kampf Mann gegen Mann, die bevorzugte Sportart der Hungerleider.“
Zweifellos spricht der Erzähler mit der Stimme seines Schöpfers. Dany Laferrière fürchtet, sich „am starken Licht Amerikas zu verbrennen“. Seine Beobachtungen changieren zwischen schlicht:
„Jeder Staat hat ein eigenes Autokennzeichen.“
und grandios. Laferrière besteigt einen „Berg fertiger Bilder“. Er bemerkt eine ungeheuerliche Naivität und wähnt sich zu Besuch in einem Kindergarten voller Bewaffneter, die ruchlosen töten und von Schuld nichts wissen.
Die amerikanische Realität verortet er im Kino. Er interpretiert Straßenszenen als Spielfilmausschnitte und Videoclips. Die Künstlichkeit sei in der US-Wirklichkeit angekommen.
Aus der Ankündigung
Ein junger Schwarzer Schriftsteller, der gerade seinen ersten Romanerfolg hinter sich hat, erhält von einem bekannten Magazin an der Ostküste den Auftrag, eine große Reportage über Nordamerika zu schreiben. Ein Roadtrip nach dem Vorbild von Jack Kerouac: Er ist pausenlos unterwegs, schreibt alles auf, was er vor Ort erlebt, was ihm Leute berichten, was in Zeitungen und Büchern steht. Er knipst Hunderte von Fotos, führt Gespräche mit Filmgrößen wie Spike Lee, dem Rapper Ice Cube und schreibt über Miles Davis und Jean-Michel Basquiat. James Baldwin schaltet sich aus dem Himmel dazu. In einer Abfolge von Tableaus werden verschiedene Themen wie Macht, Rassismus, Gewalt, Sex und Armut behandelt. Das Buch zeichnet zugleich das Portrait eines jungen, kultur- und freiheitsliebenden Schriftstellers inmitten eines Amerikas, das seine Versprechen nicht immer hält.
Dany Laferrière, der gern mit Stereotypen und Klischees spielt, taucht in gewohnter Manier in die Tabus und Rassenfantasien seines Gastlandes ein, durchleuchtet die amerikanische Gesellschaft in all ihren Kontrasten, von den ärmsten Ghettos zu den wohlhabenden Gegenden. Ein ungemein hellsichtiges, vollständiges, auch die heutigen Verhältnisse kennzeichnendes Panorama über ganz Nordamerika.
Der halbdokumentarische Roman, der ein wichtiger Teil des amerikanischen Autobiograpie-Zyklus ist, wurde 1993 veröffentlicht und 2002 von Dany Laferrière überarbeitet. Der Titel bezieht sich auf den Fall Amadou Diallo, einem jungen Guineer, der von New Yorker Polizeibeamten erschossen wurde, als er gerade seine Schlüssel aus der Tasche holen wollte.