Im 19. Jahrhundert grassieren nationale Erweckungsbewegungen im Geleit der Reaktion, die eben nicht nur restaurativ, sondern auch revolutionär auftrat. Im Igel-Patriotismus steckte zunächst ein Vorwurf, der sich gegen die europäisch gefassten Dynastien richtete. Der Nationalismus unterlag der zustimmenden Kritik von Marx und Engels, soweit er „Kulturnationen“ betraf. Die Autoren konstruierten einen Gegensatz zwischen Kulturnationen und den „sogenannten geschichtslosen Völker bzw. Völkerruinen“, deren Schicksal es nach Marx sein sollte, kolonisiert zu werden. Doch auch die historisch relevanten Gesellschaften unterlagen im Kontext dem Fluch der Vorläufigkeit. „Nationale Absonderungen und Gegensätze“ verschwänden nach der Erhebung des Proletariats zur „nationalen Klasse“.
Yuval Rubovitch, „Marxismus, Revisionismus, Zionismus. Eduard Bernstein, Karl Kautsky und die Frage der jüdischen Nationalität“, Hentrich & Hentrich, 29,90 Euro
Zunehmender Antisemitismus erzwang die Verknüpfung der „Judenfrage“ mit der nationalen Frage unter sozialistischen Vorzeichen. Bernstein und Kautsky diskutierten den intellektuellen Dreisprung Jude - Nation - Sozialismus als führende Köpfe einer zunächst hardcore-marxistischen, programmatisch in Gegnerschaft zum Antisemitismus gestellten SPD.
Kautsky verkörperte die Orthodoxie, während jener Flügel an Bedeutung gewann, „der eine evolutionistische, reformistische und später revisionistische Haltung vertrat“. Nun schlossen Protagonist:innen auf, die sich weigerten, Verteilungskämpfe „ausschließlich unter dem Aspekt von Klassenunterschieden zu bewerten“. Sie erkannten eine Dualität von Nation und Klasse; siehe Moses Hess. Bernstein steuerte in dieses Fahrwasser.
Jacob Toury weist einen „chronologischen Parallelismus“ in den Dynamiken der jüdischen Emanzipation und der klassischen Arbeiterbewegung ab 1848 nach. In einem Wettbewerb der Emanzipationen drängten beide Gruppen zu markanten Repräsentationen ihrer Interessen. Als Jüdin/Jude in der SPD schlug man zwei Fliegen mit einer Klappe. Das war, kurz gesagt, der schnellste Zug des Fortschritts. Der Zionismus bot eine nationale Lösung der „Judenfrage“.
Aus der Ankündigung
Die zwei prominenten sozialdemokratischen Denker und engen Freunde, der orthodoxe Marxist Karl Kautsky und der Revisionist Eduard Bernstein, standen aufgrund ihres Streits in der „Revisionismusdebatte“ zwischen der Jahrhundertwende und 1912 in keinerlei Kontakt miteinander. Trotzdem trugen die beiden in diesen Jahren eine andere Debatte vor allem implizit aus: die über die Frage der jüdischen Nationalität und des Zionismus. Yuval Rubovitch zeigt erstmals in seinem Buch auf, wie Bernstein und Kautsky ihre gegensätzlichen Haltungen zu diesem Thema entwickelt und einander beeinflusst haben, obwohl Bernstein zu dieser Zeit noch augenscheinlich entschiedener Antizionist war. Diese intellektuelle Debatte erstreckte sich bis zu Bernsteins Tod – als Pro-Zionist – am Vorabend des Nationalsozialismus und war eng mit dem Wirtschaftsdiskurs der zwei Theoretiker verbunden.