Die Goldmanns sind findige Leute, proletarische Unternehmer:innen. Der Berliner Bezirk Prenzlauer Berg liefert ihrem Alltag in den 1920er und -30er Jahren zilleske* Hauptschauplätze. Pioniergeist und Wurstigkeit gehen Hand in Hand. Jaki G. zieht auf seinen botengängerischen Expeditionen Schinkenbrote aus Automaten und verstößt so gegen den Kashrut. Der Sohn eines russisch-polnischen Einwandererpaars genießt die Freiheiten urbaner Anonymität. Die Erzählerin bringt Jaki als Bruder ihres Vaters ins Spiel.
*Adorno warf Zille vor, der Künstler habe mit pittoresken Darstellungen das Elend am Popo gestreichelt.
„Dieses Buch ist mein Kaddisch für meinen Vater.“
Nach dem Tod des Vaters erinnert die Erzählerin Rituale ihrer Kindheit. Sie ergaben sich auf einer Kreuzung zwischen Tradition und Skepsis ... einer säkularen, den religiösen Rigorismus moderierenden Praxis und offensiver Verweigerung. Shraga Goldmann glaubte nicht an Gott. Für ihn verkörperte sich das Glück in seinen Kinder. Ihnen spielte er Lieder der israelischen Sängerin Ilanit vor.
Ayala Goldmann, „Schabbatkind. Geschichten meiner Familie“, Hentrich & Hentrich, 19,90 Euro
In einer großen Schleife verwebt Ayala Goldmann die Auftaktworte eines Liedes, Maos Zur, mit dem prosaischen Chanukka-Regime des Vaters und der Operation Gegossenes Blei. In tausend Geschichten schließt die anekdotische Evidenz zur Geschichte Israels auf. Ob sich S. Goldmann der (seiner Ungläubigkeit furchtbar ins Gewissen peitschenden) Sendung bewusst war, die ein Kinderversduktus verbirgt? Die Worte paraphrasieren Jes 17,10.
„An dem Tag, an dem du pflanzt, magst du großziehen; / an dem Morgen, an dem du säst, magst du sprießen lassen, doch dahin ist die Ernte am Tag des Siechtums / und des unheilbaren Schmerzes.“
Was für ein Kassiber für einen allen Wundern abholden Sozialdemokraten.
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Ayala Goldmann erzählt ihre Familiengeschichte. Eine Großmutter bestand darauf, sich ihren Mann selbst auszusuchen. Sie düpierte konventionelle Rollenerwartungen im ehelichen Verhältnis zu einem russischen, im I. Weltkrieg in deutsche Kriegsgefangenschaft geratenen, seiner Rückführung nach Warschau entgangenen Schuster. Deportation und Desertion klingen paradox an - Die Heimkehr als gefühlte Deportation; der von der Entwaffnung nicht aufgehobene (im zaristischen Komment begründete) militärische Status. Der Handwerker landet schließlich im Berliner Arbeiterbezirk Prenzlauer Berg. Tatsächlich wohnt er in der Metzer Straße.
Irgendwann ist es so weit. Die häusliche Pflege des siechen Patriarchen überfordert die Angehörigen. An einem Frühlingstag absolviert er den letzten Umzug zu Lebzeiten. Seine letzte Aussicht gestattet ihm beschränkte Deutungen in einem katholischen Pflegeheim. Er fühlt sich passabel untergebracht und aufgehoben. Aus guten Gründen stellt Shraga Goldmann das heraus.
Die Erzählerin holt bald aus zu dem großen biografischen Bogen ihres Vaters, der Haifa am Rosch ha-Schana anno 1938 erreichte. Einundzwanzig Jahre später wählte er den umgekehrten Weg, um in Deutschland zu studieren. An einer akademischen Neugründung* wurde er 1972 Professor für Transfusionsmedizin. Er etablierte vor Ort die Gewebetypisierung. 1985 zeichnete man ihn mit dem Ulmer Wissenschaftspreis** aus.
*„Die UU wurde 1967 als „Medizinisch-Naturwissenschaftliche Hochschule Ulm“ gegründet.“ Wikipedia
**„Shraga Goldmann wurde 1935 als siebtes Kind jüdischer Eltern in Berlin geboren, mit denen er drei Jahre später unter schwierigsten Umständen noch nach Palästina emigrieren konnte. Dort wuchs er auf, absolvierte nach dem Schulabschluss den Militärdienst und war anschließend für zwei Jahre Mitglied in einem Kibbuz.“ Quelle
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Bis zum Schluss bewahrte sich Professor Goldmann den Übermut der Weisen. Der gestressten Tochter riet er:
„Nimm das doch nicht so ernst. Lach einfach darüber.“
Dann segnete er das Zeitliche und die Kalamitäten des Rituellen begannen. In der Trauerhalle hing ein Kreuz. „Die Feier muss(te) (im Winter) draußen stattfinden, ein jüdischer Kantor (konnte) in dieser Halle nicht amtieren.“ Zum Glück ließ sich das Kreuz temporär entfernen. Ayala Goldmann verblendet die satirische Dimension des Aufwands, getrieben wohl kaum zum Wohl eines kernigen Atheisten.
„Kaddisch für einen Atheisten? Mein Vater hat das Trauergebet für seinen Vater verweigert, als mein Großvater 1957 in Israel starb.“
Im Ulysses macht Joyce die Fundamentalgebärde zum Kennzeichen seines Alter Egos Stephen Dedalus. Sie bildet eine Marke im Dunstkreis des Martello Tower am Strand von Sandycove. Der robuste Turmpatron Buck Mulligan, ein Medizinstudent und passionierter Beobachter des Morgue-Geschehens, verweigert Stephen den Respekt auf allen Feldern der fadenscheinigen Bedürftigkeit des Genies. Er will ihn allein da erkannt haben und folglich gelten lassen, wo Stephen dem letzten Wunsch der Mutter (nämlich auf ihrem Totenbett mit dem unbegreiflichen Sohn gemeinsam zu beten) eine drastische Absage erteilte.
Aus der Ankündigung
Shraga Felix Goldmann ... studierte in Hamburg, wurde Transfusionsmediziner an der Universität Ulm und Gründer des Zentralen Knochenmarkspender-Registers Deutschland (ZKRD) für Leukämie-Kranke. Eine starke Vaterfigur – politisch engagiert, säkular und dennoch tief verwurzelt in jüdischen Traditionen.
Seine Tochter Ayala Goldmann beschreibt ein Leben zwischen zwei Welten. Sie sucht nach 13 Verwandten, deren Spuren sich im Warschauer Ghetto verlieren, und eine Antwort auf die Frage, warum ihre Mutter zum Judentum konvertiert ist. Ein Buch über Glauben, Zweifel und Hoffnung auf eine Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland.
Mit einem Vorwort von Josef Schuster.