Wilhelm Raabe dramatisiert mit allen Mitteln. Er zieht das Wetter und die Landschaft heran. Beide nimmt er in die Pflicht, einem großen Gemälde zu dienen. Bald kontert er das Furiose und rauscht ab in die kleinteilige Gemütlichkeit, indem er alles aufzählt, was in einer Apotheke an Tiegeln und Tassen herumsteht.
Ich rede über die 1873 entstandene Novelle „Zum wilden Mann“. Die Geschichte vom Wilden Mann (als einer beweglichen und zugleich statistischen Figur) gehörte gut und gern hundert Jahre zum Kanon. Sie handelt von dem altgedienten Haudegen Colonel Dom Agostin Agonista, der seine Gestalt in kolonialen Abenteuern erhielt. Raabe beschäftigte sich mit einem Typus, den es vor den Ausbeutungsfeldzügen im Globalen Süden nicht gab. Das ist ein Schlächter und Schinder, der mit seiner Schwadron über Aufständische hinwegreitet.
Der Autor spielt mit den Chancen der Koinzidenz.
Ein Schauplatz des handlungsarmen Geschehens - eine im Thüringer Harz nahe dem Kyffhäuser stationierte Apotheke - heißt „Zum wilden Mann“. Die Gegend selbst nimmt das Thema auf. Markante Punkte tragen martialische Namen. Heraus ragt der „Blutstuhl“, dem in Chroniken die besondere Bedeutung einer germanischen Versammlungsstätte zukommt.
Raabe gibt sich viel Mühe mit Echo und Hall. Ich bringe keine Leidenschaft im Aufspüren der Verdopplungen von Motiven mit. Das Wetter ist so, dass man keinen Hund auf die Straße lassen möchte, das Gelände liegt da zerklüftet und entlegen. Nun kommt in die Behaglichkeit einer guten Stube (der möblierte Dachstuhl der Apotheke) zu Honoratioren (Fürsten des provinziellen Alltags) einer aus der großen Welt, die alle anderen nur vom Hörensagen kennen.
Der Kolonialismus hatte im 19. Jahrhundert auch noch im letzten Krähwinkel seine Resonanzkörper. Die untüchtig Zurückgebliebenen kannten sich auf ihre Weise damit aus. Sie konsumierten Kolonialwaren so wie sie die Erzählungen von den Wilden im Westen konsumierten. Agonista kehrt als ausrangierter Söldner im Dienst des brasilianischen Kaisers zurück in die alte Heimat.
Raabe wählte Brasilien mit Bedacht. Unter einer (aus einem portugiesischen Exilhof herausgewachsenen) im Grunde europäischen Herrschschaft (Segundo Império do Brasil) hielt sich zäh die erzkoloniale Sklavenhalter:innengesellschaft.
„Erst 1888 lenkt die mächtige Lobby der Großgrundbesitzer ein. Am 13. Mai verkündet Prinzregentin Isabella, dass Brasilien die Sklaverei abschafft – als letztes Land der westlichen Hemisphäre.“ Quelle
Folglich blieb der Scherge Agonista in der Herrenrolle ungebrochen. So wie er einen viel größeren „Platz an der Sonne“ kennenzulernen den Mut besessen hatte, als ihn Bernhard von Bülow für das Deutsche Reich requirieren konnte.
„Mit einem Worte: wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.“ Quelle
Das wird nebenbei verhandelt. Die deutsche Michaela kommt nicht hinter ihrem Ofen hervor, während Engländer:innen im Wettstreit mit Franzosen/Französinnen sich die spanische und portugiesische Welt unter den Nagel reißen.
Der Kolonialismus liefert der Geschichte die Dynamik.
Das Dorf, in dem Agonista als junger Mann sich für die Auswanderung rüstete, besiedelt eine Harzkuppe – den Blutstuhl. Der unchristliche Ursprung des Ensembles kollidiert und koinzidiert mit der Weltläufigkeit des Heid:innenkillers Agonista.
Der Mann kam der Zivilisation abhanden, indem er sie vertrat.
Er wurde zum Wilden, indem er „Wilde“ tötete.
Als Niemand kann man in Amerika ankommen und sich mit Mord und Raub da ein Vermögen verschaffen. So ausgestattet kehrt man zurück und stellt seine Vergleiche an und setzt sich Vergleichen aus.
Als Repräsentant der eigenmächtigen Tatkraft ist Agonista ein Dorn im Auge des zurückgebliebenen Biedermeiers.
Der Unbewegliche begegnet der Leserin vierfach als Apotheker Kristeller, Kreisarzt Hanff, Pastor Schönlank und Förster Ulebeule. Kristeller gelang auch ein Aufstieg von eigenen Gnaden. Seinen Platz im Leben verdankt er einem autodidaktisch botanisierenden Menschen, den er in einem August vor dreißig Jahren da traf, wo der Blutstuhl am wüstesten und sein Massiv bizarrer noch als überall sonst schroff ist.
Das darf man eine Wildnis nennen. Darin traf Kristeller einer „Wilden“. Er nannte ihn nach dem Monat der Begegnung. Herr August überließ ihm vor Abreise nach Übersee neuntausendfünfhundert Taler. Den Batzen legte Kristeller in der Apotheke „Zum Wilden Mann“ an.
In der Runde kursierte die Idee vom „falschen Geld; einem Geld, auf dem kein Segen liegt“.
*
Man entdeckt Hinweise auf eine Wildnis in den Köpfen und Herzen der Gemäßigten.
Agonista „fühlt den Frost in den Knochen“. Er präsentiert sich als jener Herr August. Folglich steht Kristeller mächtig in seiner Schuld. Der Heimkehrer gibt seine Lebensgeschichte zum Besten.
„Es lernt sich alles auf der Welt.“
Agonista entstammt einer Scharfrichterdynastie.
„Mein Großvater hat das Amt als finsterer Enthusiast bekleidet.“
Der Enkel „entwickelte sich zu einem Handwerker des Kolonialismus“.
Undsoweiter.