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2021-10-14 05:17:32, Jamal Tuschick

Narrative Spiegelungen

Lauter verpasste Gelegenheiten bilden eine Kette aus Enttäuschungsperlen. Jahrzehnte ist Letty eine hingebungsvolle Romanleserin, vorderhand angetrieben von dem Wunsch nach „geistiger Fortentwicklung“. In Wahrheit sucht sie narrative Spiegelungen ihrer Existenz. Bis ihr aufgeht, dass das Leben einer ungebundenen und bald auch schon älteren Frau „von keinem Interesse für die (Verfasser:innen) moderner Prosa ist“. Der Einsicht verschiebt Lettys Vorlieben Richtung Biografien. Sie erscheinen ihr „wertvoller als irgendwelche heutigen Romane“.

Barbara Pym führt Letty auf einem Scheideweg in der Mittagspause ins Romangeschehen ein. Letty könnte die Geste einer Fremden als Gesprächseinladung deuten und ihre Annahmebereitschaft signalisieren. Eine vertraute Hemmung sorgt wieder für jene Verzögerung, in der sich die Offerte verflüchtigt. Wie gesagt, lauter verpasste Gelegenheiten bilden eine Kette aus Enttäuschungsperlen.

Erstmals erschien der Roman 1977. Quartet in Autumn wurde für den Booker Prize nominiert. Ein schrulliges Ensemble orchestriert das Geschehen. Marcia, Letty, Norman und Edwin bilden eine Bürogemeinschaft alleinstehender Angestellter. Sie stehen am Ende ihrer Erwerbstätigkeitsphase. Pym registriert die Valeurs der Schlussseufzer.

Barbara Pym, „Quartett im Herbst“, Roman, auf Deutsch von Sabine Roth, Dumont, 234 Seiten, 20,-

Aus der Ankündigung

Sie arbeiten im selben Büro und stehen kurz vor der Rente: Marcia, Letty, Norman und Edwin. Alle vier leben allein, dennoch pflegen sie außerhalb des Büros kaum Kontakt – auch wenn sie täglich Kaffee und Teewasser teilen. Sie beobachten, beargwöhnen, beraten einander und versuchen, über ihre Einsamkeit hinwegzuspielen. Letty, die zur Untermiete wohnt, gerne liest und Wert auf ihre Kleidung legt, steht seit Jahrzehnten im Schatten ihrer Freundin, zu der sie im Alter aufs Land ziehen wollte. Plötzlich jedoch werden alle Pläne umgeworfen. Das einzige Ereignis in Marcias Leben, eine Krebsoperation, bringt sie dazu, für ihren Arzt Mr Strong zu schwärmen. In ihrer freien Zeit widmet sie sich obsessiv dem Ordnen ihrer Milchflaschen und Konserven. Edwin ist Witwer und verbringt den Großteil seiner Zeit mit der Suche nach einer Andacht, einem Abendmahl oder Gottesdienst. Sein ewig nörgelnder Kollege Norman besucht lieber einen kranken Verwandten, den er aber genauso wenig leiden kann wie den Rest der Menschheit. Als Marcia und Letty in Rente gehen, trennen sich die Wege der vier, aber das Leben bringt die kleine Gemeinschaft immer wieder zusammen. Ironisch, schwarzhumorig und doch mit leisem Optimismus zeigt Barbara Pym in ›Quartett im Herbst‹ ihr erzählerisches Können in seiner sprühendsten Form.

Zur Autorin

Barbara Pym (1913 bis 1980) studierte Literatur in Oxford und arbeitete als Assistant Editor im African Institute in London. Mit sechzehn Jahren schrieb sie den ersten von insgesamt dreizehn Romanen. Ihr Werk ›Quartett im Herbst‹ wurde 1977 für den Booker-Preis nominiert. Bei DuMont erschienen die Romane ›Vortreffliche Frauen‹ (2019) und ›In feiner Gesellschaft‹ (2020).

Hier noch einmal meine Besprechung von Barbara Pyms Roman „In feiner Gesellschaft“

Bruchbudenzauber und Gefühlswährung

Ein Mann entbindet sich von einem Eheversprechen. Ihrem gebrochenen Herzen verordnet die Sitzengelassene die Kur einer Tagung. Die Unterbringung ist dann erschreckend dürftig, „eine elende Kammer“, eingerichtet für zwei Versprengte, die nichts besseres mit sich anzufangen wissen, als in einem Kreis fremder Leute Interesse an einem Thema weit weg von den eigenen Bedürfnissen zu heucheln.

„Sie hätte niemals hierherkommen dürfen.“

Das erkennt Viola Stint mit den „spitzen Fingern“ eines unbefestigten Snobismus sowie angesichts der Einrichtungstristesse „in einem Mädcheninternat in Derbyshire“, das als Tagungsstätte fungiert.

Zu Viola gesellt sich „eine biedere englische Jungfrau“. Viola erhebt sich leicht über Dulcie Mainwaring. Berechtigt findet sie ihren Stolz auf eine Kombination von britisch-blassem Teint und schwarzen Stoffen in der Manier einer formbewussten Trauersuggestion. Nun entert Aylwin Forbes die Bildfläche. Vorsorglich zieht er eine Flasche Gin „aus den Falten seines (kofferfein verpackten) Schlafanzugs“. Den Koffer könnte die Mutter gepackt haben, zu der sich Aylwin nach einem Ehedesaster in Sicherheit zu bringen die Geistesgegenwart besessen hat. Viola, die ihm einst als Assistentin inbrünstig zuarbeitete, strebt den ungelüfteten Geheimnissen seines Schosses entgegen; jedes Vergnügen verneinend.

„Die Frage ist nicht, ob ich etwas genieße … Mir geht es um ihn.“

Das ich & ihn erscheint kursiv.

Barbara Pym sagt: „Frauen schafften es oft, Dinge herbeizuführen, die ein Mann schlechterdings für unmöglich gehalten hätte.“

Alles läuft auf eine Zuspitzung hinaus. Dulcie Mainwarings Nichte Laurel zieht frohgemut zu ihrer Tante von Nirgendwo auf dem Land nach Irgendwo in London. Das heißt, es gibt bessere Adressen, wie der Nachkommenden wohl bewusst ist. Die Gastgeberin übt rituell den Verzicht. Sie hat sich das innere Dauerlächeln schwachsinniger Milde verordnet. Vielleicht wurde sie auch dazu erzogen, wenn nicht sogar abgerichtet.

Gleichzeitig kommt Dulcies Schöpferin Barbara Pym mit einem tüchtigen Frauenbild zur Sache:
„Frauen schafften es oft, Dinge herbeizuführen, die ein Mann schlechterdings für unmöglich gehalten hätte.“
Dergleichen findet man an vielen Stellen in Pyms Werk. Die Autorin lässt trotzdem wie am Fließband schrullige Christie-Charaktere* aufmarschieren. Dulcies Spezialität ist das Erschnüffeln der Abortseite im Dasein ihr kaum bekannter Leute. Zu diesem Behuf steigt sie in die Keller der staatlichen Archive und konsultiert zum Beispiel Crockfords Klerikeralmanch.

*Barbara Pym hält, was Agatha Christie versprach. Sie liefert das britische Air, kostkolonial konserviert, superb eingetütet. Ihr hinreißend zickiges Personal geht sich gegenseitig bravourös auf den Senkel.

An trüben Orten trifft man trübe Typen, so wie die verklemmte Zwielichtigkeit im Plural; Bettelbriefschreiber, die sich die Adressen von wohltätigen Personen und Einrichtungen verschaffen; schmierige Leisetreter*innen, die nie ein Fettnäpfchen ausgelassen haben.

Die hochgemute Laurel empfindet sich als Bereicherung und Farbtupfer in der tristen Lebenslandschaft der ollen Tante. Sie denkt, man habe auch sie gewartet. In Wahrheit gehorcht Dulcie ihrem Familiensinn als einer Überich-Instanz eher schwergängig. Sie trauert kleinen Freiheiten nach. Späßen, die sie mit sich selbst zu machen beliebte. Als junger Mensch unterschätzt man die Sperrigkeit der ergrauten Eigenliebe.

Erste Chrysanthemen und verspätete Windernten

Laurel bemerkt im Garten vor ihrem Fenster erste Chrysanthemen in einem Fried aus vergammelndem, von Vögeln und Wespen angegangenem Fallobst. Sie akklimatisiert sich im endlosen Geplauder der Gemeindeaktivistinnen, diesem engagierten Kranz der Kratzbürstigkeiten.