Barbara Pym arrangiert Marotten ergrauter Angestellter zu einem Bouquet heimeliger Tristesse. Dazu gehören die Enthauptungen von „Geleepüppchen“, das psychoanalytisch aufschlussreiche Versagen der Tischmanieren, eine manierierte Handhabung abgenagter Hühnerbeine und umständliche Teebeutelprozeduren. Die Ramschprozessionen vollziehen sich auf engem Raum.
Marcia, Letty, Norman und Edwin: die trostlosen Vier altern gemeinsam in einem Büro. Sie sind Singles und entbehren Verwandte in Reichweite.
„Glitschige Tomatenscheiben“, der Dampfstrahl des Wasserkochers, der „Zitronenschnitz“ aus dem „kleinen, runden Plastikbehälter“, die Jumbodose Nescafé; Pym versammelt Randerscheinungen des Büroalltags und erzeugt so die Suggestion, das Zeug würde in einem Topf zur Suppe verrührt, mit allen möglichen einschlägigen Assoziationen, vom Kessel Buntes bis zum Leipziger Allerlei.
Barbara Pym, „Quartett im Herbst“, Roman, auf Deutsch von Sabine Roth, Dumont, 234 Seiten, 20,-
Der Beschreibungsmonomanie haftet Rührendes an; eine breitkrustige Beschaulichkeit. Unglück sieht jedenfalls anders aus. Pyms Personal vereint sich in einer ewigen, britisch post-kolonialen Mauerblümchenblüte. Es feiert mutterlose Muttertage ohne Blumen als ein Hausse-Ereignis im Einerlei eines gediegenen Desasters in vier Londoner Durchschriften.
Ich lese Barbara Pym für mein Leben gern. Je älter ich werde desto angenehmer ist mir die unforcierte Psychologie der Autorin. Sie trägt pointillistisch auf. Doch nimmt sie ihre Farben nicht von der Pastellpalette.
„Pastellene Farben sind, allgemein gesprochen, Farbtöne, die nahe an Weiß liegen.“ Wikipedia
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Lieber noch als ihren Genoss:innen folge ich Letty. Ihre Kernfamilie verlor die „Rüschige“ so früh, dass sie über kein belastbares Herkunftsszenario verfügt. In der Handlungsgegenwart gibt sie „sich noch immer Mühe mit ihrer Kleidung“. Sie existiert in einer vagen Symbiose mit Marcia, dies zweifellos in Ermangelung geeigneterer Liebesobjekte.
„Unter solchen Umständen kann in Frauen eine Art unsentimentaler Zärtlichkeit füreinander wachsen, die sich in kleinen Gesten der Fürsorglichkeit ausdrückt, nicht unähnlich den Tauben, die einander die Milben aus dem Federkleid picken.“
Bestimmte Gefühle verwandeln sich in unbestimmte Gefühle, wenn sie kein „natürliches Ventil“ finden. Der Bürogemeinschaft fehlen Erregungen, die Töchter im Klimakteriumsstress, vollversagende Schwiegersöhne und drogensüchtige Enkel:innen frei Haus liefern. Sie sind in der Etappe des Lebens hängengeblieben und orientieren sich auf einem (von Pym grandios ausgeschilderten) Kurs des schwachen Ersatzes.
Profane Aura
Letty verliert ihre Aussicht auf eine Ruhestandswohngemeinschaft mit Marjorie. Die besser gestellte, komfortabel verwitwete Freundin will plötzlich den Pfarrer ihres Dorfes heiraten. Letty findet David Lydell schrecklich durchschnittlich. Ihm fehlt der fahle Glanz des Geistlichen. Seine profane Aura verstört Letty.
Im Alter ersetzt das Licht über dem Altar die Diskokugel.
Als Idol verspricht Lydell Letty nur Enttäuschung; zumal Marjorie ihr einen Altenheimplatz als Alternative zur Greisenkommune avisiert. Hier soll Letty unterkommen.
Letty verweigert unguten Empfindungen die Landeerlaubnis. Bis auf Weiteres wird sie in ihren beengten Londoner Verhältnissen als bloße Untermieterin ausharren. Wir sehen nichts als Duldsamkeit und Bescheidenheit. Doch der Teufel ist ein Eichhörnchen. Lettys Hauswirtin trennt sich von ihrem Eigentum. Sie verkauft an einen britisch-nigerianischen Priester und dessen Gott auch im häuslichen Rahmen frenetisch bejubelnde, gemeindeförmig auftretende Familie.
Zwei Sprichwörter bieten sich zum Unken an:
Ein Unglück kommt selten allein, und, (nicht nur) aller guten Dinge sind drei.
Lettys Bürogemeinschaft ergötzt sich an den Kalamitäten der Kollegin. Letty erreicht das Ende ihrer Spielräume als letzten Punkt einer Rückzugssackgasse. Mental steht sie mit dem Rücken zur Wand.
„Wie (soll) sie diesen kraftvollen, lebensstrotzenden Schwarzen ihre spezielle (defensive) Form von Christlichkeit erklären?“
Das ist die Moral von der Geschichte. Lettys Zurückhaltung endet im sozialen Kollaps. Ihre Musik hat aufgehört zu spielen.
In der Endspurtphase vor dem Ruhestand vermisst Letty den Rahmen ihrer Zukunft als Rentnerin auf dem Land. Ihr schwebt eine Wohngemeinschaft mit ihrer Jugendfreundin Marjorie vor, die das beschauliche Dasein einer „sorgenfreien Witwe“ genießt. In Marjories dörflichem Dunstkreis zirkulieren alte Paare mit Enkelkindern. Die anhanglos-ledige Londonerin Letty unterdrückt Regungen des Befremdens angesichts der ruralen Routinen, in denen die Sonntagspredigt bereits als Abwechslung und der Pfarrer als illustre Persönlichkeit begriffen werden.
Ich verliere mich in dem psychologischen Labyrinth einer allen Regelmäßigkeiten zum Trotz unbefestigten Existenz voller Bruchbudenzauber. Im Hafen der inneren Einkehr herrscht eine mit Sesselschonern abgedeckte Tristesse.
Barbara Pym hält, was Agatha Christie verspricht. Sie liefert das britische Air, kostkolonial konserviert, superb eingetütet. Ihr hinreißend zickiges Personal geht sich gegenseitig bravourös auf den Senkel.
An trüben Orten trifft man trübe Tassen. Der Pfarrer lässt sich Father nennen und entpuppt sich als Schnorrer, der in den besseren Haushalten seiner Gemeinde Sitzfleisch am Abendbrottisch beweist. Er schwadroniert wie jedermann und unterbietet sogar das Form- und Schicklichkeitsbewusstsein der einfachen Leute. David Lydell teilt mit, was niemand wissen will, wie zum Beispiel:
„Ich hatte die ganze Woche Diarrhö.“
Die verzichtsversierte Letty bedenkt das schwierige Wort.
Lauter verpasste Gelegenheiten bilden eine Kette aus Enttäuschungsperlen. Jahrzehnte ist Letty eine hingebungsvolle Romanleserin, vorderhand angetrieben von dem Wunsch nach „geistiger Fortentwicklung“. In Wahrheit sucht sie narrative Spiegelungen ihrer Existenz. Bis ihr aufgeht, dass das Leben einer ungebundenen und bald auch schon älteren Frau „von keinem Interesse für die (Verfasser:innen) moderner Prosa ist“. Der Einsicht verschiebt Lettys Vorlieben Richtung Biografien. Sie erscheinen ihr „wertvoller als irgendwelche heutigen Romane“.
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Barbara Pym führt Letty auf einem Scheideweg in der Mittagspause ins Romangeschehen ein. Letty könnte die Geste einer Fremden als Gesprächseinladung deuten und ihre Annahmebereitschaft signalisieren. Eine vertraute Hemmung sorgt wieder für jene Verzögerung, in der sich die Offerte verflüchtigt. Wie gesagt, lauter verpasste Gelegenheiten bilden eine Kette aus Enttäuschungsperlen.
Erstmals erschien der Roman 1977. Quartet in Autumn wurde für den Booker Prize nominiert. Ein schrulliges Ensemble orchestriert das Geschehen. Marcia, Letty, Norman und Edwin bilden eine Bürogemeinschaft alleinstehender Angestellter. Sie stehen am Ende ihrer Erwerbstätigkeitsphase.
Aus der Ankündigung
Sie arbeiten im selben Büro und stehen kurz vor der Rente: Marcia, Letty, Norman und Edwin. Alle vier leben allein, dennoch pflegen sie außerhalb des Büros kaum Kontakt – auch wenn sie täglich Kaffee und Teewasser teilen. Sie beobachten, beargwöhnen, beraten einander und versuchen, über ihre Einsamkeit hinwegzuspielen. Letty, die zur Untermiete wohnt, gerne liest und Wert auf ihre Kleidung legt, steht seit Jahrzehnten im Schatten ihrer Freundin, zu der sie im Alter aufs Land ziehen wollte. Plötzlich jedoch werden alle Pläne umgeworfen. Das einzige Ereignis in Marcias Leben, eine Krebsoperation, bringt sie dazu, für ihren Arzt Mr Strong zu schwärmen. In ihrer freien Zeit widmet sie sich obsessiv dem Ordnen ihrer Milchflaschen und Konserven. Edwin ist Witwer und verbringt den Großteil seiner Zeit mit der Suche nach einer Andacht, einem Abendmahl oder Gottesdienst. Sein ewig nörgelnder Kollege Norman besucht lieber einen kranken Verwandten, den er aber genauso wenig leiden kann wie den Rest der Menschheit. Als Marcia und Letty in Rente gehen, trennen sich die Wege der vier, aber das Leben bringt die kleine Gemeinschaft immer wieder zusammen. Ironisch, schwarzhumorig und doch mit leisem Optimismus zeigt Barbara Pym in ›Quartett im Herbst‹ ihr erzählerisches Können in seiner sprühendsten Form.