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2021-11-04 04:48:12, Jamal Tuschick

Eleganter Gegner

Im Dezember 1910 stirbt Samuel Lublinski. Thomas Mann erwähnt den Tod des Publizisten in einem Brief an seinen Bruder Heinrich. Er führt aus:

(Theodor) Lessing veröffentlichte in der Schaubühne einen Nekrolog von so milder Verlogenheit, dass man sich erbrechen könnte.“

Als Lessing 1933 von Nationalsozialisten ermordet wird, vertraut Mann seinem Tagebuch an: „Mir graust vor einem solchen Ende, nicht weil es das Ende, sondern weil es so elend ist und einem Lessing anstehen mag, aber nicht mir.“

Geheime Kommandosache

Lessings auf Lublinskis gemünzte Invektiven verdankte sich ein Literaturskandal, in dem Thomas Mann aufgetreten war; so dass sich Lessing in seinem Nachruf nicht davon abhalten konnte, den eleganten Gegner mit einem zur Seite geführten Streich zu markieren. Thomas Mann habe in dem Streit seine „erstaunlich ärmliche Menschlichkeit enthüllt“.

Nachrufe zu Lebzeiten

Zu meiner Zeit qualifizierte sich ein Redakteur, wenn er das überraschende Ableben einer prominenten Zeitgenossin umgehend mit einem Nachruf quittieren konnte. Auf die Geste kam es an. Man zauberte den Text aus der Schublade wie das sprichwörtliche Kaninchen aus dem Hut. So bewies man Überblick. Während die Welt von der Plötzlichkeit eines Todesfalls unvorbereitet getroffen wurde, zeigte sich der Redakteur präpariert. Triumphierend zündete er sich eine Zigarette an; hatte er es nicht schon immer gewusst. Damals rauchte man noch in Büros und griff unverschämt zum Schreibtisch-Cognac. Die zu Lebzeiten verfassten Nachrufe gehörten zu den geheimen Kommandosachen der Redaktion. Nur Berufene waren eingeweiht. Oft saß ein Gunner abends in einer Veranstaltung neben der Zielperson, der er am Nachmittag alles Mögliche vorausschauend nachgesagt hatte. Die Colts der verdeckten Nachrede rauchten noch.

Thomas Mann, Heinrich Mann, Briefwechsel 1900 - 1949, herausgegeben von Hans Wysling, S. Fischer Verlag

Zurück zu den Brüdern. Bereits 1911 gratuliert Thomas Mann dem Älteren zum vierzigsten Geburtstag. Der Gratulant unterstellt dem Jubilar „Genugthuung“ (Originalschreibweise) im Hinblick auf „ein stolzes und kühnes Lebenswerk“. Bedenkt man Heinrich Manns trostloses Exil-Finale, vergegenwärtigt sich einem wieder einmal, was die Walze Zeit anrichtet. Der Schaden wächst mit den Verdiensten. Er wirkt sich in diesem brüderlichen Verhältnis besonders drastisch aus. Hier hat das lachende Auge ein anderes Gesicht als das weinende.

*

Thomas und Heinrich verständigen sich darüber, was sich der Mutter aufladen lässt.

„Giebst Du Mama das Stück zu lesen? Ich möchte wissen, ob man zu ihr davon sprechen darf.“

Die Belle Époque in ihren letzten Zügen

Die Brüder leben in rasender Zeitgenossenschaft. Sie sind mit allen und allem verbandelt. Gemeinsam bilden sie einen Nabel des im Vergehen sich aufblähenden Reiches. Die Belle Époque liegt in ihren letzten Zügen.

Affären werden durchgehechelt.

„Wie gefiel Dir die Affaire Pan-Jagow?“

1911 meldete Alfred Kerr skandallustig dem gebildeten Publikum, dass der staatliche Zensor Pan Jagow der Frau des Verlegers Paul Cassirers, ich rede von Tilla Durieux, zu nah getreten war; obwohl die Betroffenen die Angelegenheit im Entre-nous-Modus à la le charme discret de la bourgeoisie bereits unter den bürgerlichen Perser gekehrt hatten. Kerr wollte Staub aufwirbeln, Ärger machen. Der Kaiser ignorierte den Anschwärzversuch mit einem Achselzucken. Er beförderte Jagow, der neun Jahre später sogar als Kapp-Putschist von einem Gericht der Weimarer Republik in Ehren gehalten wurde.

*

Aus der Ankündigung

Der Dialog der beiden großen Brüder war oft Disput. Unterschiede des Temperaments und der Moralität führten zu einer »repräsentativen Gegensätzlichkeit«, die sich zunächst in der Kunstauffassung, dann vor allem in den politischen Anschauungen der beiden offenbarte. Im Ersten Weltkrieg kam es zum Bruch, als sich Heinrich in seinem Zola-Essay gegen den Bruder wandte und dieser sich in den Betrachtungen eines Unpolitischen zur Wehr setzte. Bei einer schweren Erkrankung Heinrichs 1922 bahnte sich die Versöhnung an, die zu mehr als einem modus vivendi kaum führen konnte. Als Thomas 1946 schwer erkrankte, bekannte ihm Heinrich, er empfände es als müßig, weiterzuleben ohne ihn. Diese sehr menschlichen Dokumente sind zugleich literarische Zeugnisse: sie enthalten Kommentare und Selbstinterpretationen zu fast allen großen Werken.