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2021-11-04 04:57:42, Jamal Tuschick

Symbolbild © Jamal Tuschick

Keine Jubiläumswohltat

Auf der Kinderseite steht das Irrtümer-Gedicht von Peter Hacks: „Und sie wandeln von dem Platze – Ohne Zwischenfall nach Haus, - Rechts, nach Weißensee, die Katze, - Links nach Lichtenberg, die Maus.“

Die DDR deklariert eine Amnestie vier Jahre vor ihrem Ende als Jubiläumswohltat und noble Geste. In Wahrheit verdanken sich die Massenentlassungen einer überraschenden Volte im deutsch-deutschen Annäherungspoker. Sie gehören zu den geheimen Bedingungen, die von der Bundesregierung an die Milliardenkredite der Neunzehnhundertachtzigerjahre geknüpft sind. In Westdeutschland führen die „lebensverlängernden Maßnahmen für einen Unrechtsstaat“ (Undine Simorgh im „Edertaler Boten“) zur Gründung der „Republikaner“. Gedealt wird auf dem idyllisch gelegenen, vorzeigebayrischen Gutshof des Rosenheimer Fleischproduzenten Josef März. Für die DDR steigt Alexander Schalck-Golodkowski in seiner Funktion als Chef-Devisenbeschaffer in den Verhandlungsring. Golodkowski ist Leiter des sagenhaften „Bereichs Kommerzielle Koordinierung“ („KoKo“) im Ministerium für Außenhandel. Die Bundesrepublik repräsentiert der bayrische Ministerpräsident, „Neben-Außenminister“ und Vielflieger Franz Josef Strauß. Alle anderen fahren in Limousinen vor, nur Strauß kommt im Helikopter. Gegen Kohl setzt er sich so in Szene: „Mir doch egal, wer unter mir Bundeskanzler ist“. Vorsätzlich düpiert Strauß Außenminister Genscher, indem er ihn übergeht und die Angelegenheit bloß noch abnicken lässt. Die Einfädelung des Milliardenkredits für die DDR war der letzte politische Coup eines im Vorraum des höchsten Amtes gescheiterten Politikers. Der schwärzeste Klassenfeind half dem roten Bruder jedoch nur vermeintlich aus einer Klemme. Strauß-Biograf Stefan Finger stellt fest, der Kredit habe es der DDR-Nomenklatura gestattet, bis zum Ruin weiter zu wursteln. Sonst wären Reformen fällig oder der Staatsbankrott unvermeidbar gewesen.

Lew Kopelew und Alexander Solschenizyn liefern den Abgrundszenarien des Kalten Krieges traumhafte Bilder aus einer ewigen schwarzweißen Winterwelt. Der „anti-imperialistische Schutzwall“ wirkt wie ein Embargo. In der Ostsee-Zeitung stellt ein Obermaat fest: „Durch das Bestehen unserer Armee und durch ihre feste Waffenbrüderschaft mit den Armeen des Warschauer Paktes werden den Kriegsbrandstiftern Zügel angelegt und der Frieden in Europa gesichert.“ Auf der Kinderseite steht das Irrtümer-Gedicht von Peter Hacks:

„Und sie wandeln von dem Platze – Ohne Zwischenfall nach Haus, - Rechts, nach Weißensee, die Katze, - Links nach Lichtenberg, die Maus.“

In der gleichen Ausgabe einer Zeitung, die es immer noch gibt, meldet das Politbüro die Anzahl der „Provokationen gegen unsere Staatsgrenze seit dem 13. August 1961“. Fünfhundert Gramm Pfirsiche der Handelsklasse A1 kosten 1.15 MDN und sind „erhältlich in allen Obst- und Gemüse-Verkaufsstellen des sozialistischen Handels“. Für den folgenden Winter wird ein Wittigstahler Dauerbrandofen empfohlen. In einer Anzeige heißt es: „Ihr diskreter Drogist“ sendet „kostenlos Prospekte für Schutzmittel“.