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2021-12-11 07:31:31, Jamal Tuschick

Aus dem späten Müller spricht ein vom Passivrauchen entnervter Tod.

© Jamal Tuschick

Ein Heiner wie keiner

Der mittlere Müller klingt noch jugendbewegt wie ein Wandervogel. Seine Stimme durchläuft eine ähnliche Karriere wie die Stimme von Johnny Cash. Der späte Cash singt wie ein Delegierter des Todes, damit die Lebenden schon mal reinhören können. Aus dem späten Müller spricht ein vom Passivrauchen entnervter Tod. Jetzt hat dem Müller „die Sphinx schon die Kralle“ gezeigt, doch raucht der M. als weiter. Was soll man da machen? Sphinx, wo ist mein Stachel?

Herzkranzgefäß

Der Arzt zeigt mir den Film DAS IST DIE STELLE
SIE SEHEN SELBST jetzt weißt du wo Gott wohnt
Asche der Traum von sieben Meisterwerken
Drei Treppen und die Sphinx zeigt ihre Kralle
Sei froh wenn der Infarkt dich kalt erwischt
Statt daß ein Krüppel mehr die Landschaft quert
Gewitter im Gehirn Blei in den Adern
Was du nicht wissen wolltest ZEIT IST FRIST
Die Bäume auf der Heimfahrt schamlos grün

21.8.1992

Müller räuspert sich ständig. Ein monumentales Geräusch, das von exorbitanten Vergleichen begleitet wird, etwa zum Verhältnis BRD/DDR (nach ’89).

„Einst gab es Rom und Karthago. Jetzt gibt es nur noch Rom.“

Schon klar, Müller ordnet den globalen Kapitalismus Rom zu und subsumiert darunter die Bundesrepublik, aber so sagt er das nicht. Ich will mich aber lieber noch eine lange Weile in Müllers Keimzeit aufhalten. Er bleibt umstritten. Seine mediale Präsenz in der DDR ist so gering, dass Funkgastgeber:innen beim Publikum keine Müllerkenntnisse voraussetzen können. Also bitten sie ihn immer aufs Neue, sich vorzustellen. Sie sekundieren:

„Du Heiner, wenigstens kommst du aus der Arbeiterklasse.“

Sie werben für ihn, indem sie ihm eine proletarische Herkunft nachsagen und ein gesteigertes Interesse an der postrevolutionären Sowjetliteratur. Müller zeigt sich nicht gern gefällig. Er widersetzt sich der proletarischen Herkunft, obwohl sie keineswegs weit hergeholt ist. Fast verzweifelt erinnern Moderator:innen an die Geschichte vom sächsischen Schuhmacher, der als schwacher Großvater dem schwachen Vater vorangeht. In der Regel stimmt Müller seinem Interesse an früher Sowjetliteratur widerstandslos zu. Darüber müssen wir noch reden, dieses Interesse erklärt Müllers im Ruf der Zweifelhaftigkeit stehende Leidenschaft für die DDR.

Eine echte Lanze für sein Land bricht Müller in Amerika. In Texas, wo man ihn extrem schätzt, ihn Mister Muller nennt und nicht Du Heiner sagt, geht er in die Vollen bei der Verteidigung des neuen Deutschlands. Daheim im Staatsrundfunk macht er lieber den Kolleg:innen das Leben schwer. Man reiht die Perlen auf. Da gibt es „Zement“ nach Fjodor Gladkow, bedeutet das nicht zwangsläufig ein gutes Verhältnis zur großen Schwester Sowjetunion. So was ist mit Müller nicht zu machen:

„Als die Russen kamen, war ich in Schwerin und Schwerin war zuerst amerikanisch. Als ich nach Waren zurückkam, waren die Orgien vorbei. Es wurde nicht mehr vergewaltigt.“

Da ist Müller sechzehn und an Sartre orientiert. Er plündert die Warener Stadtbibliothek. Brecht ist ihm „zu grau“. „Die Partei ist verklemmt und verängstigt.“ Das Theater, ein Dreck. Müller bleibt in der DDR, „um die (flüchtigen) Eltern loszuwerden“. Er nennt sich selbst asozial:

„In der DDR konnte ich Außenseiter sein.“