1923 behauptete eine verheiratete Weiße namens Fannie Taylor nach einem handfesten Streit mit ihrem weißen Liebhaber, von einem Schwarzen angegriffen und verletzt worden zu sein.
Fannie Taylor brauchte eine Erklärung für ihre Blessuren, die sie nicht als Ehebrecherin desavouierten.
Wir sitzen in Omas Wohnzimmer, denn es ist Sonntag. Die Schokoladentorte versöhnt mich mit der langweiligen Gesellschaft. In der Plattentruhe steigen und fallen die Schallplatten in einem magischen Geschehen. Rudi Schuricke ist Omas Mann am Mikrofon.
Omas Wohnzimmer bleibt unter der Woche geschlossen. Die meisten Möbel und so auch das Sofa sind solange abgedeckt. Am meisten interessiert mich eine Schallplattenvitrine mit Intarsien. Die Vitrine firmiert als Truhe und glänzt neben einem Vertiko. Die Maschine ist der teuerste Gegenstand, den Oma besitzt.
Omas Alltag spielt sich in der Küche ab. Da bäckt sie für den Besuch Pfannkuchen oder füllt mit dem Teig die Negativform eines schweren, jugendstilistisch verzierten Waffeleisens. Als Frau eines Verschollenen mit zwei Kleinkindern und einem Baby wurde Oma kaltgestellt. Während ihr fast alles peinlich ist, tritt ihre Schwester, meine Großtante Erika, mit dem weltweit kopierten Schwung von Marika Rökk auf. Das ist Oma erst recht peinlich. Auch ich bin ihr peinlich. Erika lacht herzlich über ihre genante* Schwester.
*von genieren
Sie fegt Omas Bedenken vom Tisch, aufgehellt vom mitgebrachten, im Biedel** flaschenweise herumgetragenen Likör, dem Erika ausdauernd zuspricht. Oma nippt hasenherzig mit hochgezogener Oberlippe. Erika kippt. Sie schließt den Vorgang ab, indem sie sich mit dem Handrücken tatkräftig über den Mund fährt.
**Beutel
Erika ist den leichten Weg gegangen. Sie hat einen Ami geheiratet. Onkel Bob aus dem Sonnenstaat Florida. Seine Rolle im Gefüge ist gefestigt. Er hat bereits für meinen Vater und seinen Bruder den reichen Onkel aus Amerika gespielt. Er fährt zwar einen Straßenkreuzer, der doppelt so breit ist wie ein Opel Admiral, vermeidet sonst aber alles Auftrumpfende. Mein Vater hat von ihm einst einen Lamberjack aus Kord geerbt. Schließlich vererbte er mir den heiligen Fetzen. Der Lamberjack behält seine Wertschätzung als kanadische Holzfällerjacke. Dies als Beispiel für ein Familiennarrativ.
Meine Eltern besuchten Tante Erika und Onkel Bob in Cedar Key am Golf von Mexiko. Eine Inselgruppe vor der Küste heißt Cedar Keys. Bob zeigte den Gästen die Gegend und so kamen sie dahin, wo Rosewood einst existierte. Rosewood ist heute eine Wüstung. Der nach einem Massaker an der überwiegend Schwarzen Bevölkerung 1923 aufgegebene, rund fünfzehn Kilometer östlich von Cedar Key gelegene Ort, ging 1847 aus einem Holzfällercamp hervor. Cedar bedeutet Zeder. Auch Rosewood bezieht sich auf (die Farbe der) Zeder. Zedern stifteten dem Weiler eine kleine Industrie. Zu einem Sägewerk kamen Holz- und Kiefernölmühlen (Terpentinmühlen). Nach dem Sezessionskrieg erhielt Rosewood einen Gleisanschluss. Es formierte sich eine Schwarze Gemeinschaft.
Die weiße Lüge
1923 behauptete eine verheiratete Weiße namens Fannie Taylor nach einem handfesten Streit mit ihrem weißen Liebhaber, von einem Schwarzen angegriffen und verletzt worden zu sein.
Fannie Taylor brauchte eine Erklärung für ihre Blessuren, die sie nicht als Ehebrecherin desavouierten.
Die weiße Lüge löste einen Pogrom aus. Die Schwarzen kämpften. Die Zahl der Toten auf beiden Seiten ging in politischen Feststellungen unter.