Tobias Kammann war ein Junge, der sich wehrte. Er ließ sich nicht einfach aus der Jacke helfen, von Jugendlichen, die im öffentlichen Raum diebisch in Gruppen unterwegs waren. Kammann beschrieb mir so genau wie nichts sonst, mit welchen Techniken er sich in filmreifen Szenen gewehrt hatte. Mit vierzehn besaß er die Seelenruhe und Eitelkeit, in einer Notwehrlage aus der Drehung Tritte auf Kopfhöhe zu platzieren.
Wo andere Gewalt und Anspannung erlebten, da trieb er Sport und zeigte sein Können. Wir trainierten gemeinsam Taekwondo bei jedem Wetter im Park; Kammann ging von sich aus durch die Wand. Ich war ihm ein Jahr überlegen und zwei Jahre gewachsen. Danach war er mir über, begriff das aber nicht mit fünfzehn, sechzehn. Ich hatte ihm nichts geschenkt, nun deckte er mich stolz mit Tritten ein. Meine Freundin fragte: „Warum tust du dir das an?“
Kammann war ein blonder Leuchtturm in Frankfurt, Größe und Gewicht passten perfekt zusammen; bis er sich von der reinen Lehre technischer Lösungen abwandte und ihn die Kraftlust zum Brocken machte. Muskelverbrecher aller Ethnien versuchten ihre Banden mit ihm aufzuwerten. Aber Kammann interessierte sich nicht für ihre Programme.
Seinen Eltern war er so fremd wie ein zu spät angenommenes Kind. Er hatte keine elternhäusliche Orientierung. Seine Geradlinigkeit, sein Gerechtigkeitssinn und eine körperliche Abneigung gegen Lügner und Durchstecher zwangen ihm die Rolle eines problematisch Pubertierenden auf. Man schickte ihn nach Amerika, wo er Boxen und Ringen lernte. Als er zurückkam, war er als Kämpfer ziemlich komplett, sozial jedoch abgehängt. Er verbesserte sich mit Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung und fuhr Taxi für seinen Lebensunterhalt. Er lernte wie verrückt, bis zur Hochschulzugangsberechtigung. Weiter gefördert wurde er bei seinem Psychologiestudium in Mainz von der Studienstiftung des deutschen Volkes. Heute unterrichtet er an der Uni. Kammanns Stärken liegen in der unwillkürlichen Verweigerung jeder Dramatisierung und einer unvoreingenommenen Weltauffassung. Er versachlicht und systematisiert, so wie er es schon als Heranwachsender getan hat. Seine Kampfsport und -kunst-Analysen haben ihn zum Wing Tsun geführt. Auf diesem Weg ist er jetzt. Er folgt den vier WT-Prinzipien: 1. Ist der Weg frei, stoß vor. 2. Ist der Weg nicht frei, bleib kleben. 3. Ist die Kraft des Gegners größer, gib nach. 4. Zieht der Gegner sich zurück, folge ihm auf seiner Kraftbahn.