Der auf einem osthessischen Knick in einer Enge zwischen Thüringen und Franken ansässige Unternehmer Amiran Vanilisi beschäftigt fast ausschließlich Migranten in seiner Fabrik für Schuhbodenteile. Seine Vorfahren flohen von einem Ufer zum anderen aus Georgien in die Türkei und bildeten da die nicht anerkannte Minderheit der Lasen. Das sind in der Mehrzahl sunnitische Muslime, vereinzelt auch orthodoxe Christen. Die kulturellen Trennlinien verlaufen umgekehrt proportional zu den Demarkationen zwischen den christlichen und den muslimischen Armeniern (Hemşinli), die sich in den gleichen Gebieten ausdifferenziert haben. Amirans Vorfahren stammen bis zur Generation seiner Eltern ausnahmslos aus der Provinz Düzce. Obwohl sie mit keiner markanten Ethnie auf dem Staatsgebiet der Türkei verwandt sind, nimmt man sie als Türken wahr.
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Amiran erzählte mir seine Geschichte mit der Erwartung, dass ich daraus eine glänzende Biografie mache, die er seinen Kunden mit auf den Weg geben kann. Daraus wurde nichts. Stattdessen stiegen wir immer tiefer in die Keller unspektakulärer Tatsachen. Amiran zahlte gut und freute sich über meine Einfälle. Da ich mich keinen Einschränkungen ausgesetzt sah, blieb ich munter und interessiert. Alle drei Monate besuchte ich ihn an einem Wochenende, er holte mich am Bahnhof ab, lud mich zum Essen in einem Landgasthof nach meinem Geschmack ein und unternahm mit mir Spaziergänge in der Klingenbacher Aue, einem Moor mit eigenem Klima. Bei einer dieser Begegnungen arrangierte Amiran ein Treffen mit seiner ersten Freundin. Daraus ergab sich eine Brieffreundschaft zwischen Hanna und mir. Im Gegensatz zu dem herkunftsindifferenten und in seiner Gleichgültigkeit stilsicheren Amiran problematisierte Hanna ihre kurdisch-türkische Familiengeschichte in Aufwallungen und Abschweifungen. Wir beide hatten viel über ethnische Differenzen und Dominanzgesellschaften nachgedachten. Ich hatte mich mit der Migration als Journalist ein Vierteljahrhundert über Wasser gehalten. Das war unser unique selling point (siehe Böhmermann/Polak) . In einem Spiegel sieht man die Kontrastlosigkeit solcher geistigen Single-Existenzen so deutlich, dass man das nach einigen depressiven Anwandlungen wieder produktiv machen kann. Hanna redete und redete, das heißt, sie schrieb sich die Finger wund. Nicht immer ging es um Migration. Manchmal ging es auch um Gott, Magie und Impaktkrater.
Die Geschichte der Gastarbeit muss noch geschrieben werden.
Die Quelle der Salm tritt in der Rhön aus. Sie führt den überirdischen Kreisläufen Wasser aus einem Magmareservoir zu. Eine Vorstellung von reinem Wasser überschwemmt die Kajakfahrerin. Wasser, das nie zuvor mit dem Dreck der Menschenwelt in Berührung gekommen ist. Unter der Oberfläche macht die Erdgeschichte weiter Fortschritte im Schleudergang. Sie bleibt glühend schwarz und vulkanisch eruptiv.
Das Boot liegt federleicht auf dem Wasser. Der Fluss nimmt es einfach mit. Seine Kräfte wirken konzentriert in eine Richtung. Hanna spürt keinen abweichenden Zug. Ein Regenbogen zeichnet sein Tor. Bartmäuler streben zu tanzenden Kongressen. So losgelassen empfindet Hanna das All-Alleinsein.
Sehnt sich der Mensch nach Gott, zeigt er sich der Schöpfung gewachsen. Das glaubt Hanna. Sie glaubt: Wir sind das Göttliche. Die Einsicht bleibt im Kopfdickicht hängen wie das vom Ufergestrüpp gefangene Zeug. Abfallinseln schwappen in schwacher Dünung und erinnern an den Müllkontinent im Stillen Ozean. Der friedliche Verlauf nähert sich dem Ende. Der Fluss passiert das Eberhaupt im Hohen Ried, „ertüchtigt sich im Sauwald, grüßt bei Lüdersbach die Klopfmühle und beim Hochberg die Sterntalermühle mit gelinden Aufwallungen“, wie der Fuldaer Heimatdichter Vurst Merkel einst schrieb.
So machen wir immer weiter, Hanna und ich. Sie erzählt von Gott, dem göttlichen Wir und ihren magischen Kreisen und magnetischen Reisfeldern und Erdheilungsprojekten und Touren auf dem Bergfahrrad und im Kajak, und ich schreibe das auf.
Hanna hat die Figur einer Marathonläuferin. Sie sieht nach Angst vor Kontrollverlust aus, nach Magersucht und Ritzen und nach notorischem Verliebtsein in den Falschen. Nach drei gescheiterten akademischen Anläufen ist sie in der Migrationsforschung gelandet.
Irgendwas mit Migration und Medien. Hanna macht in Hanau irgendwas mit … So redet Amiran über seine erste Freundin; erste richtige Freundin, wie er sagt. Er schwankt auf einem Grat der Missachtung, unschlüssig, wie Hannas Bildungsüberlegenheit ihm gegenüber zu bewerten sei. Zum ersten Mal brachte Amiran uns im Klingenbacher Schluchthof zusammen, wo er Hanna auch untergebracht hatte, weit genug weg von seiner eifersüchtigen Kadira. Ich war mit einem halben Hähnchen und den Fleischfäden zwischen meinen Zähnen beschäftigt. Mich strapazierte die ambitionierte Geselligkeit. Ich wusste, dass mich Amiran als Sonde einsetzte, die Hanna da ergründen sollte, wo er mit seiner Realschule nicht hinkam. Für Amiran war ich damals noch ein Fachmann mit Doppelabschluss; genial polyglott. Um der Wahrheit nach seinem Schema gerecht zu werden, hätte er in mir etwas Geringeres sehen müssen als in seinen Produktionshelfer*innen. Dahin kam er noch.
Amiran kann man nichts vormachen. Um nichts zu übersehen, geht er erstaunlich unvoreingenommen auf Leute zu und nimmt erst mal für bare Münze, was sie verbreiten. Er zeigt sich zurückhaltend und urteilt spät.
Um ein Modewort zu verwenden: Amiran ist achtsam. Inzwischen höre ich viel lieber Hanna zu als ihm, dem Abgeklärten und Phantasiearmen. Auf seinem Geldplaneten ist er für mich unerreichbar.
Auch Hannas Mutter zählte zu jenen, die kaum begreifen konnten, dass man in Deutschland für etwas so Geringwertiges wie Arbeit Geld bekam. Ich gebrauche diese Formulierung so oft, weil sie zumindest mir hilft zu verstehen, was kulturelle Differenz bedeutet. Fatma war im kurdischen Karst mit den Erwartungen einer Magd auf die Welt gekommen. Auf eine verschwiegene Weise war Unfreiheit (ich sage: eine kostümierte Unfreiheit) ihr Zustand vom ersten Atemzug an. Sie stockte eine gutsherrliche Reserve auf. Sie wurde einer Familie als Braut versprochen. Sie gehörte sich keinen Augenblick. Das vollzog sich in der Gegend von Mardin nahe der syrischen und der irakischen Grenze im türkischen Mesopotamien - in einem Zusammenhang mit lauter Spezialitäten. Fatmas Eltern waren Zoroastrier. (Diese Religion geht auf persische Kulte zurück.) Sie verstärkten einen arabisch-iranisch-kurdischen Klan. Da war nichts türkisch. Es griff noch nicht einmal die islamische Klammer.
Es war aber auch nichts transportierbar. Alle Unterscheidungen wurden nur im Stammesgebiet begriffen. In Ankara war Fatma so unlesbar wie in Bonn.
Das muss man sich klarmachen.
Fatmas kulturelles Erbe beschränkte sich auf eine verbotene Sprache, Lieder, Trachten und Zeremonien. Sowohl Türkisch als auch Arabisch waren Herrschaftssprachen jenseits der kurdisch-kulturellen Grenzen.
Fatma entging der totalen Ausbeutung in eine minderschwere Form der Ausbeutung nach Istanbul. Das war eine Entwurzelung, eine Stigmatisierung und vollzog sich als Flucht.
Fatma kam ledig in die Türkei. So muss man das sehen: sie kam aus ihrer Gegend in die Türkei. Nun erlebte sie zum ersten Mal das Wunder einer Entlohnung. 1964 kam sie alleinstehend nach Deutschland und wurde kontingentiert bei Schering in Berlin eingesetzt und in einem Wohnheim im Wedding untergebracht. Sie fing an zu rauchen, ging aus und hatte Bekanntschaften. Noch niemand hat die Geschichte dieser Frauen erforscht, die als Türkinnen wahrgenommen wurden, sich selbst aber kaum so begreifen konnten. Auf dem Marsch durch die deutschen Instanzen wurden sie erst einmal türkisch. Da lag die größte Verbindlichkeit und eine hundertprozentige Übereinstimmung mit dem Pass. Redet man heute von Passdeutschen, sollte man sich klarmachen, dass es genauso Passtürk*innen gibt.
Morgen mehr.