„Unbefangen weiter straucheln, bis zum letzten Atemzug.“ Hans Magnus Enzensberger
„Viele meiner Gedichte hätte ich mir sparen können.“ Günter Eich
„Einen Meister habe ich nicht gehabt, aber einen Mentor: Michael Rutschky.“ Marc Degens
„Das in den Tagebüchern aufscheinende Bild einer demonstrativ offenbarten Verwahrlosung traf für den öffentlichen Intellektuellen Rutschky bis zuletzt nicht zu.“ Harry Nutt in einer Besprechung von Degens Buch vom 21.02.2022 in der Frankfurter Rundschau/Quelle
Es ist oft erzählt worden. In der Hochzeit des Ungeheuren Alltags formierte sich eine Korona der talentierten Zustimmung um Marie-Luise Scherer, Gabriele Göttle, Jutta Voigt und (als einer Ermöglicherin, die mir am Herzen lag) Jutta Stössinger. Kleine Lichter flackerten an den Peripherien Illuminierter. Das Niveau garantierten Katharina und Michael Rutschky. Die Rutschkys. Das Premiumpaar machte Ansagen zu Fragen der Perspektive und Reflexion. Es bestimmte die Koordinaten einer Neubestimmung von Ornament & Verbrechen.
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Ich spielte im Sand des Pflasterstrands. Damals, ich rede von den 1980er Jahren, war jeder Kneipengang eine ethnologische Exkursion; war eine Reise ans Ende und ins Herz von Trallala. Ich dechiffrierte Thekeninschriften, kopierte Klosprüche und verherrlichte Säufer als Originale. Die Aufhebung der Differenz von Arbeit und Leben glückte vermeintlich im Wahrnehmungsrausch.
Dann war das vorbei. Thomas Hettche konnte in einem Roman Motive von Marie-Luise Scherer übernehmen. Niemand fand das bemerkenswert. Ich war schon lange in einer Umlaufbahn des verdunsteten Damals angekommen, als ich Michael Rutschkys postum veröffentlichtes Tagebuch las; anfangs mit der Erwartung auf etwas Vertrautes. Im nächsten Augenblick dachte ich, dies und das hat Rutschky nicht geschrieben. Das wurde ihm untergejubelt. Da ist was Editorisches schiefgelaufen. So wie es auch Rolf Dieter Brinkmanns als Abrechnung verkauften, seelischen Notverkauf Rom, Blicke jedenfalls nicht so wie vorliegend geben würde, ohne die Not einer Hinterbliebenen. Gleichviel. Kein Pflock trieb sich mir ein. Ich behielt lediglich einen dösenden Zweifel bis eben. Gerade las ich Marc Degens „Selfie ohne Selbst“.
Marc Degens „Selfie ohne Selbst“, Berenberg, 83 Seiten, 18,-
Der Titel ist eine Aufnahme des pluralen Echos, dass dieser Titel auslöste:
Michael Rutschky, Gegen Ende – Tagebuchaufzeichnungen 1997 – 2009, mit einem Vorwort von Kurt Scheel und einem Nachwort von Jörg Lau, Berenberg Verlag, 24,-
Meine irrationale Reaktion ist nicht singulär. Zuletzt zeigte sie sich mir beim Lesen von Hans Magnus Enzensbergers vorläufig letzten Eintragungen „Fallobst. Nur ein Notizbuch“, mit Zeichnungen von Bernd Bexte, Suhrkamp, 15,-
Enzensberger schreibt:
„Die schauderhafte Belle Époque, wie sie von Edmond und Jules de Goncourt in ihrem heimtückischen Journal beobachtet wird. Kunst und Pornographie, ein unflätiges Vokabular bei den teuersten Diners, ein trautes Einverständnis zwischen Hurerei und Heuchelei.“
Mit Enzensberger frage ich mich, was geschieht, wenn die Kritiker:innen bigotter Verhältnisse mit den Akteuren der Verworfenheit jedes Laster teilen und einfach nur sehr viel weniger Geld zur Verfügung haben als die Kritisierten? Enzensberger führt aus: Es gibt genug „Schriftsteller, Drehbuchautoren und Regisseure, die diese makabre Gesellschaft, wie einst die Goncourts, darzustellen suchen, wiewohl sie Habitus, Gewohnheiten, Obszönitäten und Flüche mit ihr teilen. Als Stellvertreter Baudelaires und Rimbauds werden sie hochgeschätzt …“
1989 erschien in der von Enzensberger emphatisch edierten „Anderen Bibliothek“ im Eichborn Verlag als 52. Band „Edmond und Jules de Goncourt. Blitzlichter. Portraits aus dem neunzehnten Jahrhundert.“
Ausgewählt, übersetzt und mit einem Nachwort versehen wurde das Journalextrakt von Anita Albus.
Die Frankfurter Rundschau schrieb: „Die Tagebücher der Brüder Goncourt sind eine kultur-, zeit-, sozial- und sittengeschichtliche Fundgrube ersten Ranges.”
Hedonistisch rauchende und schwadronierende Feinschmecker:innen und Weinbeißer:innen bewachten die Aufgänge zur Hochkultur. Ihr Typus ist aus der Welt verschwunden. Ihre Exzentrik hat sich in Luft aufgelöst. In einem von hochmütiger Bequemlichkeit bestimmten Betriebsklima sezierte Albus die Brüder.
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Enzensberger erlebt sich (gewiss kaum anders als Rutschky sich erlebte) als „Relikt aus dem 20. Jahrhundert“; limitiert von einer unwiderruflichen Prägung. Ihn beschleicht das „Gefühl, als gingen einen manche Erscheinungen der Gegenwart nicht mehr besonders viel an“. Stattdessen zählt er Akutphänomene zu den „Macken und Marotten“ der anderen.
Vladimir Nabokovs (von dessen Sohn Dmitri „respektvoll übersetzten und annotierten“) Collected Stories bescheinigt Enzensberger „enttäuschende Virtuosität“. Die Deklassierung nage am Erzähler. „He is trying too hard. Es fehlt ihm an Unbefangenheit, daher das prätentiöse Vokabular. Man nennt einen solchen Stil overwritten. Herrliche Details, die auf die Dauer ermüden. Ein Meister, der sich überschätzt.“
Rutschky lässt sich davon nicht alles nachsagen. Stilistisch hielt er Kurs bis zum Schluss. Sein Blick war ungetrübt, das Alter machte ihn nicht zottelig-nachsichtig. Er blieb sich selbst erhalten. In Zürich klaute man ihm die Reisetasche, Rutschky empfand Bewunderung für die versierte Kaltblütigkeit des Diebes. Er bedauerte kaum sich auflösende Freundschaften. Doch die Deklassierung und eine Verhärtung treffen ihn, manche sagen, als Vorwurf. Ich finde es albern, so über schriftstellerische Lebensläufe zu urteilen.
Denkt an Beckett:
“Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.”
Zustimmender Widerspruch
Michael Rutschky kam seiner Zeit als jemand entgegen, der Enzensbergers omnipotentem und prä-avantgardistischen Gestus zustimmend widersprach und die (von seinem Leitstern noch in Bausch und Bogen abgeklärten) Sensationen knapp über den Bodenwellen des Gewöhnlichen feierte. Irgendwo sagt der grandios indifferente Enzensberger, jemand interessiere sich für die Menschheit, aber nicht für die Leute, um so die eigene Position im Gegenlicht zu bestimmen.
In den persönlichsten Aufzeichnungen beweist Rutschky, wie klein seine Welt ist. Als Nordhesse in Berlin erscheint er exemplarisch für den Sprung aus der Provinz in die Großstadt, auch wenn er das einschlägige Programm kolossal überbietet. In der Gegenwart von Kathrin Passig und Thomas Palzer und in Thomas Braschs Stammlokal „Ganymed“ am Schiffbauerdamm konstatiert er „sexuelle Appetitlosigkeit“.
Rutschky beobachtet „Techniken der permanenten Aufmerksamkeitserhaltung“ bei Karin Graf und Joachim Sartorius. Einer Inderin sagt er nach: Sie begann „als lesbisch-feministische Anarchistin und mutiert(e) … zur Begleiterin“ des Dichters als alter Mann.
Idealpaarbildung
Das ist doch solvent beobachtet und treffend formuliert. Degens erkennt die Qualität. Er reibt sich aber an Rutschkys gemeiner Sicht der eigenen Frau. Das fand ich auch so daneben. Deshalb wollte ich lange nicht glauben, dass der im Ruhestand der Idealpaarbildung angekommene Autor Katharina mit Häme verfolgt.
Degens spricht von der „Rutschky Schule“. Mir kam das Bild zum ersten Mal als ich Gerhard Henschels Erinnerungen las. Ich zitiere aus der FAZ. Der einschlägige, als Nachruf deklarierte Artikel wurde am 24.03.2018 aktualisiert. Quelle
Damals erschienen Henschels Einlassungen als Auszug. Aus der Legende: „Der Text ist ein Vorabdruck aus Gerhard Henschels „Erfolgsroman“, der im kommenden Herbst beim Verlag Hoffmann und Campe als nächster Teil des bereits sieben Bände umfassenden autobiographischen Martin-Schlosser-Zyklus erscheinen wird.“
Degens beschreibt ähnliche beglückende Begegnungen mit Rutschky. Da war ein unbefangenes Entgegenkommen. Degens wählt auch den aufgeschlossenen, den Ereignissen voraus jubilierenden Ton, der die Henschel-Prosa an Kempowski heranrückt, und dem Adorant:innen-Genre eine altväterliche Gravitation gibt.
Bald mehr.