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2022-03-21 07:34:21, Jamal Tuschick

„Es ist hier nicht der Ort für ungebührliche Heiterkeit auf Kosten eines irrend Sterbenden, über den der Alkohol Gewalt hat.“ James Joyce, „Ulysses“

© Jamal Tuschick

Der kostbarste Augenblick des Abends

Die Tangotänzer:innen sind da. Ihre Musik kommt aus einem alten Radiorekorder von Nordmende. Das weiß Tillmann so genau, weil der Rekorder ihm gehört. Die Tänzer:innen treten festlich auf.

„Bitte erscheinen Sie nicht leger.“

In der Nacht sehen die Denkmäler im Park wie erstarrte Lebewesen aus. Wir sind alle nur Möglichkeiten füreinander. Überall werden Verabredungen getroffen, als müsste sterben, wer nichts vor hat. Tillmann bemerkt Paulas Sohn Jamal im Flutlicht der Boulespieler:innen. Die Boulespieler:innen sind unnachgiebig in ihren Gewohnheiten.

Der kostbarste Augenblick des Abends hebt seine Lider.

Ein Einkaufswagen wird über den Platz geschoben; klingelnd vom Leergut.

„Ich bin so gern deine Frau“, sagt Karolin. Sie lehnt sich an, die Tänzer:innen schwelgen auf einer sinnlos betonierten Fläche. Tillmann träumt von einer Diktatur der Bäume. Die Sorgfalt der Abstände. Vor Jahrhunderten in Reihen gepflanzt und jetzt stehen sie ganz groß da.

In Gedanken korrigiert Tillmann seine festeste Freundin: Ich wäre so gern deine Frau. Während Tillmann ganz bestimmt nicht Karolins Mann sein will. Sein Kontrollblick observiert Paula. Sie bemüht sich, glücklich zu erscheinen. Tillmann war mit Paula in der Anstalt (Musterschule). Ihr Vater war da Lehrer. Ein Kollege deflorierte Paula, er ging noch jahrelang bei der Familie ein und aus. Das geschah im pädophilen Jahrzehnt, Paulas Lehrervater hielt sich für einen unterschätzten Intellektuellen. Er scharte Jüngerinnen um sich, ambitionierte Schülerinnen. Paula hatte keine geistigen Interessen. Sie zitterte sich durch die Vormittage, innerlich stumm. Ihr Vater führte sie vor. Sie revanchierte sich nach dem Abitur mit Maschinenbaustudenten und Schreinergesellen. In den Augen ihres Vaters verschwendete Paula sich an Kroppzeug.

Sie drehte sich im Kreis.

Apathie setzte eine Flagge in den Acker ihrer Existenz. Das wollte sie nicht, so was will kein Mensch, aber Paula konnte nicht anders, als allen Einflüssen des Niedergangs freien Lauf zu garantieren. Mit nichts kam sie weiter und voran.

Sie blieb zurück, wenn andere die Straßenseite wechselten. Die Signalwechsel hatten es ihr angetan. Freundlicher als jeder Mensch erschien Paula jeder Ampelpfosten. Sie erntete Verwunderung.