Simones Oma Emma Schilling war eine Walk-on-the-wild-Side-Heroine. Sie behauptete, Nico gekannt zu haben.
In meiner Kindheit waren alte Leute Überlebende des 19. Jahrhunderts. Sie hatten den Steckrübenwinter von Neunzehnfünfzehn mitgemacht und das Inflationsgeld von Dreiundzwanzig in Weidenkörben davongetragen.
Heimwollen, aber nicht mehr wissen, wo das ist. Ich habe das weder bei der früh verwitweten Mutter meines Vaters noch bei meinen Wirtschaftswundergroßeltern erlebt, die in einem Rüstigkeitsfestival weit über hundert Jahre alt geworden sind und sogar noch die Kohl‘sche Götterdämmerung und den Aufstieg von Helmuts Mädchen zur Bundeskanzlerin so meinungsstark wie verständnislos mitbekamen. Aber ich kenne das Elend der dementen Verwirrung von Simones Oma. Emma Schilling war ihrer engagierten Tochter furios vorangegangen. Sie hatte in einer feministischen Wohngemeinschaft gelebt und sich am Häuser- und Straßenkampf beteiligt. Auch dem aggressiven Humanismus des Zentrums für politische Schönheit war sie vorausgeeilt. Selbstverständlich vollzog sich Emmas Sturm und Drang in Berlin. Der inkontinente Nachklapp fand dann aber im Schoss der Familie statt. Emmas Tochter Margot war 1972 einem akademischen Ruf nach Kassel gefolgt. Auf einem dörflichen Vorplatz bezog sie und ihre jahrelang heimwehkranke Tochter nicht weit weg von dem Anwesen meiner Großeltern einen Fachwerkpalast; hochgezogen von (in die Stadt desertierten) Nachkommen der Bauerndynastie Bude. Margot entfernte sich von Simone in der Beziehung zu einer Kollegin. Simone und Margot erlitten sich in Prozessen stillschweigender Entfremdung. Simone erschien meinem Jugendmilieu als introvertierte Pippi Langstrumpf. Sie hatte alle Freiheiten und schon als Halbwüchsige einen gesetzten Lebensstil, in dem sich vielleicht ein passiver Widerstand verbarg.
Ihre ständig sturmfreie Bude verhunzte sie nicht als Partyschauplatz. Sie verweigerte sogar Schulfeste. Eines Tages hörte Simones Ablehnung ihrer Kasseler Verhältnisse auf. Sie wurde meine erste Freundin, wir lebten fast zwei Jahre in einem Jagdhaus der Försterei Fahrenbach im Kaufunger Wald. Die Trennung vollzog sich Anfang der Achtzigerjahre ohne ein laues/lautes Wort oder eine hinterhertretende Bemerkung. Dann kam die Berliner Oma. Sie sah aus wie Wolf Biermann und redete auch so, nur eben nicht zusammenhängend.
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In meiner Kindheit waren alte Leute Überlebende des 19. Jahrhunderts gewesen. Sie hatten den Steckrübenwinter von Neunzehnfünfzehn mitgemacht und das Inflationsgeld von Dreiundzwanzig in Weidenkörben davongetragen. Im Dritten Reich waren sie dann schon zu alt für alles außer Leid gewesen. Nun ragte das Greisenalter kaum noch in die Vergangenheit.
Emma Schilling war eine Walk-on-the-wild-Side-Heroine. Sie behauptete, Nico gekannt zu haben. Es gibt im Werk von Handke eine Bemerkung, die in meinen Bestand eingegangen ist so wie der letzte Satz im Ulysses: and then I asked him with my eyes to ask again yes and then he ... yes and his heart was going like mad and yes I said yes I will Yes und die Feststellung von Proust, dass jeder der Leser seiner selbst ist. Der Handke als junger Mann nimmt es der Mutter übel, dass sie zu einem Beatleslied ein paar losgelassene Bewegungen macht. Mir ging es so mit Emma. Zum Schluss saß sie bei dreißig Grad im Schatten eingepackt wie für eine Schlittenpartie auf der Veranda und hörte das Klirren der Ketten in Waldemar Ferdinands Kuhstall. Am Tor klemmte eine Fleischbank, die zu meinen Lebzeiten gewiss nicht einmal heruntergeklappt worden war. Für ein halbes Reh hatte ich als Zwölfjähriger Ferdinands Hinterland am Bach mit der Sense gemäht, nach einer Unterweisung zum Umgang mit Dengelhammer und Wetzstein.
Zu Simone sagte ich: „Emma ist auch eine Ausbeuterin. Sie beutet deine Gefühle aus.“
„Was soll sie denn sonst machen?“ fragte Simone somnambul zurück. Für sie war Wahnsinn normal. Wir saßen vor dem Cafe der Bekloppten auf dem Bürgersteig, ein verregneter Nachmittag dampfte im plötzlichen Einfall von Licht. Die Aschenbecher waren abgesoffen. Die Gegend war im Niedergang und im Kommen schon zig Mal gewendet worden. Wir wussten Bescheid. Zuviel war im Grunde jedes Wort, jede Geste, um von einem Gefühl gar nicht erst anzufangen. Wir untergruben uns gekonnt. Was freute ich mich über einen Auftritt meiner Tante Genua Tuschick. Sie setzte sich gleich zu uns. Genua war 1940/41 alles auf einmal gewesen: verliebt, verlobt, verheiratet.
Eine Witwe von zwanzig Jahren. Den letzten Gattenbrief trug Genua im Portemonnaie. Dem Gefallenen war Alban als einfacher Lückenbüßer im Ehestand gefolgt. Er hatte gemacht und getan und war ein langes Berufsleben lang maulfaul frei von jeder Verfehlung geblieben.
Genua bezog immer noch sein Bett. Vielleicht lag ihr sogar mehr an Alban, seit er im Grab lag. Wer wusste so was schon. Der Punkt waren die stadtbekannten getrennten Betten; dass Genua und Alban offiziell getrennte Betten und sich trotzdem liebgehabt hatten.